Gut oder glücklich?

BM Glück

Der Philosoph Robert Pfaller, meine Damen und Herren, ist ein Spezialist für Kritik der Askese, besonders der Askese-Übungen unserer spätmodernen Wellness-Gesellschaften, die nicht selten ihren Weg in politische Verbote finden, zum Beispiel Rauchverbote oder Zuckerverbote oder Geschwindigkeitsverbote. Das ist dann der sogenannte Kindermädchenstaat. An diesen Lebensführungsvorschriften kritisiert Pfaller, dass sie nicht selten asozial und entsolidarisierend wirken, und er zitiert den Ausspruch: «Was, du isst noch Fleisch? Was bist du nur für ein schändlicher Geselle!» Die eigene Enthaltsamkeit werde hier zu einer Distinktionspraktik, mit der andere deklassiert werden sollen, und, so Pfaller: «Diese Leute laden ihr Glück immer mit Moral auf. Sie sagen nicht einfach: ‹Das schmeckt mir jetzt besser›, sondern dass sie damit die Welt retten.»

Der Schriftsteller Bernhard Schlink sprach neulich in einem Interview gar von einer «Kultur des Denunziatorischen» und meinte die ethisch bedenkliche Mischung von politischen Fragen und Fragen individuellen Wohlverhaltens; gerne und leicht werde denunziert, was angeblich heutigen moralischen Massstäben nicht genüge; einer solchen moralischen Vereinfachung und Überheblichkeit erliege die Frage nach dem guten, dem «richtigen» Leben.

Pfaller trifft eine gesellschaftliche Stimmung, die, wenigstens in Kontinentaleuropa, heute freiheitsfeindlicher scheint als etwa noch vor 20 Jahren. Der Liberalismus wird aktuell leider vielerorts verhöhnt und denunziert. Freiheit scheint nicht so hoch im Kurs zu stehen, gegenwärtig, zumal in den grossen, immer noch überbürokratisierten und paternalistisch orientierten Staatswesen Mitteleuropas, namentlich Deutschland und Frankreich. Man fühlt sich in der Dauerkrise und verlangt nach Sicherheit. Liberales Denken hingegen entspricht augenscheinlich nicht dem Zeitgeist und soll an allen Übeln schuld sein: von den Irrationalitäten der Finanzmärkte bis hin zur Arbeitsverdichtung bei Temporärkräften.

Statt Freiheit sind Ideologien und Glaubenssysteme wieder gefragt, also eine Art des Denkens, die sich durch Geschlossenheit, absoluten Wahrheitsanspruch, und kategorischen Schwarz-Weiss-Dualismus auszeichnet. Die Geringschätzung von Werten der Liberalität ist ein Grund dafür, dass die Demokratie leidet und obskuren Bewegungen Raum gibt. Andererseits ist auf gesellschaftlicher Ebene festzustellen: Nach dem Ende der grossen Narrative von Religion und Politik, die vormals das soziale Bindegewebe darstellten, funktioniert Ich-Bildung nicht mehr über universelle, sondern nur noch über partikuläre Identifikationen mit einer bestimmten Subkultur (oder mehreren Subkulturen). Zum Beispiel: Veganer oder Radfahrer oder Nudisten. Oder Rad fahrende vegan lebende Nudisten.

Nun wäre eine auf Wissen basierte, aufgeklärte Multiminoritätengesellschaft überhaupt nichts Schlimmes, im Gegenteil; aber wenn jede Gruppe sich auf sich selbst zurückzieht und als Opfer der anderen sieht, haben wir es auf gesellschaftlicher Ebene mit jenem Phänomen der Viktimisierung zu tun, das der Psychoanalytiker, Kulturkritiker und Selbstdarsteller Slavoj Žižek bereits vor über zwei Dekaden auf der Ebene des Subjekts als ein Identitätsbildungsmerkmal der Postmoderne ausmachte: Das postmoderne Individuum neigt laut Žižek zu einem narzisstischen Selbstverhältnis, bei dem es seine Beschädigtheit betont und sich gern in einer selbstgewählten Opferrolle darstellt. Damit ist diese Viktimisierung zugleich ein Symptom der Infantilisierung. Das spätmoderne Subjekt führt sich auf wie ein Kind: einerseits will es autonom sein, anderseits ruft es nach der Mutter, der Nanny. Kein Wunder also, dass wir einen Kindermädchenstaat inspirieren.

Im Bild oben: Freiheit scheint in Zeiten der Dauerkrise nicht mehr hoch im Kurs zu stehen. (Reuters/Laszlo Balogh)

12 Kommentare zu «Gut oder glücklich?»

  • Marcel Mertz sagt:

    Inwiefern ist eine liberale Position nicht a) auch eine Ideologie, die b) einen absoluten Wahrheitsanspruch erheben kann („Alles, was nicht Freiheit als hoechsten Wert verortet, ist falsch!“), und c) zu einem kategorischen Schwarz-Weiss-Dualismus fuehren kann („Entweder Freiheit ueber alles, oder Diktatur (von xy)!“)? – Meine (provokative) Frage richtet sich nicht gegen Liberalismus per se, sondern gegen die epistemologische Annahme, diese philosophische Position sei selber keine Philosophie (Ideologie), die ebenso jene Eigenschaften aufweisen koennte wie jene, die sie kritisiert.

    • Philipp Tingler sagt:

      Ein kategorischer Liberalismus scheint mir ein Widerspruch in sich. Liberalismus ist seinem Wesen nach weniger abstrakt als vielmehr pragmatisch, orientiert an der Wirklichkeit.

  • Winston sagt:

    „Das postmoderne Individuum neigt laut Žižek zu einem narzisstischen Selbstverhältnis, bei dem es seine Beschädigtheit betont und sich gern in einer selbstgewählten Opferrolle darstellt.“ Žižek verallgemeinert zu stark. Die Betonung der eigenen Beschädigtheit und die Darstellung in einer selbstgewählten Opferrolle treffen typischerweise nur auf das LINKE postmoderne Individuum zu. – „Kein Wunder also, dass wir einen Kindermädchenstaat inspirieren.“ Auch hier ist m.E. „wir“ durch „die Linken“ zu ersetzen.

  • Anh Toàn sagt:

    Nicht „gut oder glücklich“ sondern „frei oder glücklich“ sollte es heissen: Es geht um die Freiheit der Ehefrau, Nein zu sagen zu sexuellen Handlungen, die Freiheit der Kinder, nicht von Eltern oder Lehrern verprügelt zu werden, die Freiheit, nicht von einem rasenden besoffenen Autofahrer lebenslang in einen Rollstuhl gezwungen zu werden und auch die Freiheit der Tiere, auf ein artgemässes Leben vor dem Sterben. All diese Freiheiten wurden in den letzten zwei Dekaden deutlich ausgebaut. Weniger Kindermädchen-Staat bedeutet halt nur für manche, sogar eher wenige, mehr Freiheit.

  • Heiner Hug sagt:

    Bravo Herr Tingler, das haben Sie wieder einmal sehr schön auf den Punkt gebracht.

  • Karl Lässer sagt:

    Lieber Herr Tingler, wollten Sie uns nicht eben gerade noch Crocs verbieten?

    • Philipp Tingler sagt:

      hehe, Punkt für Sie, Herr Lässer! Manchmal greift es um sich, mein inneres Kindermädchen:) Ja, ich träume von einer Welt ohne Crocs. Weil ich weiss, dass dies eine bessere Welt sein wird für uns alle. Nur deswegen postuliere ich hier strengste Verbote.

Die Redaktion behält sich vor, Kommentare nicht zu publizieren. Dies gilt insbesondere für ehrverletzende, rassistische, unsachliche, themenfremde Kommentare oder solche in Mundart oder Fremdsprachen. Kommentare mit Fantasienamen oder mit ganz offensichtlich falschen Namen werden ebenfalls nicht veröffentlicht. Über die Entscheide der Redaktion wird keine Korrespondenz geführt.