Wer Humor hat, hat Charakter

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Heute hat Sigmund Freud Geburtstag, meine Damen und Herren, und die alljährliche traditionsreiche Sigmund-Freud-Vorlesung in Wien wird heuer von Slavoj Žižek gehalten, einem Philosophen, der bestimmt ein Paar Crocs besitzt. Oder mehrere. Nichtsdestotrotz hat er gerade kürzlich in einem Interview auf diesem Portal wieder lesenswerte und richtige Dinge gesagt, zum Beispiel: «Die europäische Leitkultur geht auf den Universalismus der Aufklärung zurück, die mit einem allgemeinen Relativismus nicht zu vereinen ist.»

Ich für meinen Teil will diesen Tag zum Anlass nehmen für ein paar Gedanken zu einem Begriff, den wir alle täglich im Munde führen, ohne vielleicht genauer darüber nachzudenken: den Begriff des Charakters. In der Psychoanalyse bezeichnet «Charakter» einen Typus im Erleben und Verhalten. Die Charaktere gehen fliessend ineinander über, es gibt jedoch gängige Kategorisierungen, etwa mit Bezug auf das Freudsche Phasenmodell, aus dem man den narzisstischen, zwanghaften oder hysterischen Charakter sowie noch ein paar andere ableiten kann. Diese Form der tiefenpsychologischen Charakterologie impliziert korrespondierende neurotische Persönlichkeitsstrukturen. Mit anderen Worten: Jeder Charakter hat seine Macke. Man kennt ja die Diagnose, jemand wäre ein analer oder oraler Charakter, zum Beispiel. So was imponiert gerade dem Laien auf den ersten Blick als sehr eindrücklich, gängig und anwendungsfreundlich, was natürlich zu Missbrauch verleitet. Und deswegen ist man heute weitaus zurückhaltender mit solchen Diagnosen.

Die Vernunft gründet im Willen

Zumal es selbstverständlich auch andere Einteilungen von Charaktertypen gibt, etwa nach der Bezogenheit zu den Menschen oder der Bezogenheit zu den Dingen. Oder anhand der Unterscheidung zwischen Sozialcharakter und Individualcharakter. Und schliesslich wäre da ja auch noch die kulturelle Perspektive. Verschiedene Kulturen besitzen unterschiedliche Konzepte von Charaktereigenschaften. Norbert Bolz schreibt in «Das richtige Leben», der Charakter eines Menschen sei das Programm eines Subjekts: Ich bewerte meine eigenen Wünsche. Und aus der Differenzerfahrung, die ich dabei an mir selbst mache, entwickle ich Wünsche zweiter, höherer Ordnung. Durch die Identifikation mit einem Wunsch zweiter Ordnung wird dieser zu einem Willensakt, und damit übernimmt der Mensch die Verantwortung für sein Handeln. Die willentliche Identifikation mit dem eigenen Begehren konstituiert Identität. Offen ist der Mensch, weil er mit dem Vermögen der Freiheit ausgestattet ist. Wer sich mit seinem Charakter identifiziert, übernimmt Verantwortung für das, was er will. Daraus folgt etwas Verblüffendes: Die Vernunft gründet im Willen. Das hat, wie vieles, bereits Immanuel Kant erkannt, der schrieb: Erst wenn wir «ohne alles Interesse» (also: ohne wechselhaften Impulsen nachzugeben) handeln, gehorchen wir der Vernunft. Und wer der Vernunft gehorcht, handelt autonom.

Jeder Charakter hat seine Macke. Foto: Quinn Dombrowski (Flickr)

Jeder Charakter hat seine Macke. Foto: Quinn Dombrowski (Flickr)

Mit anderen Worten: Charakter bedeutet die – bisweilen schmerzliche – Erfahrung der Autonomie. Und was macht das aus, was man «Charakterstärke» nennt? Charakterstärke kennzeichnet die ausgereifte Persönlichkeit, das heisst die durch Entwicklungsstörungen weitgehend unbeeinträchtigte psychische Verfassung eines Individuums. Für Freud existierten zwei Triebenergien: Sex und Tod. Beide kollidieren mit dem Über-Ich, der Kultur; und wenn dieser Konflikt nicht gelöst wird, wird das Individuum krank. Von Ich-Stärke oder Ich-Reife wird in der Psychoanalyse hingegen dann gesprochen, wenn die Ich-Funktionen, also das Wahrnehmen, Denken, Handeln, zwischen den Triebimpulsen des Es und den Normen des Über-Ich so zu kontrollieren und auszugleichen vermögen, dass die Liebes- und Arbeitsfähigkeit des Menschen erhalten sind.

Wer Humor hat, kann Zufälle aushalten

Als ein Indikator der Charakterstärke gilt beispielsweise: Humor. Humor! In diesem Worte, Humor, werden die Anklänge zur Humoralpathologie, also der klassischen Säftelehre, deutlich, die alten, antiken Überzeugungen von der Wichtigkeit der Körpersäfte beziehungsweise ihres richtigen Verhältnisses für eine wohlgegründete gute Stimmung und Gemütsverfassung des Menschen. Natürlich zeigt diese Lehre von den Körpersäften, denen dann später eben auch Temperamente als Willens- und Gefühlsqualitäten – und noch später, im Mittelalter, wann sonst, dann sogar astrologische Spekulationen – zugeordnet wurden, natürlich zeigt diese Lehre betrüblicherweise auch, wie sehr ein geschlossenes System und dessen eloquente Vertretung dem Fortschritt im Wege stehen können. Andererseits kann die Humoralpathologie immerhin nicht nur als Wegbereiterin für die Entdeckung der Körpersäfte, sondern womöglich letztlich ebenfalls für die Entdeckung der Hormone, Immunkörper und Neurotransmitter erachtet werden.

Als ein Indikator der Charakterstärke gilt: Humor. Wer Humor hat, kann Zufälle aushalten. Kontingenztoleranz ist das Kennzeichen jedes echten Realismus. Dieser Gedanke gipfelt in der Paradoxie einer gelungenen Selbstverwirklichung als Selbsttranszendierung: Nur jener Charakter ist wirklich stark, der sich selbst überschreiten kann. Die Fähigkeit, einen Schritt von sich zurückzutreten, unterscheidet Menschen, die einfach nur leben, und Menschen, die ihr Leben führen. Das ist der spirituelle Gehalt der Ironie.

8 Kommentare zu «Wer Humor hat, hat Charakter»

  • Remo Gasser sagt:

    Sehr guter Artikel. Was jedoch ein bisschen unterging: Sigmund Freund war, nebst seiner unbestrittenen Leistungen als Realphilosoph, auch der Begründer der Psychoanalyse, einer pseudowissenschaftlichen Methode der Psychiatrie die gerade in esoterischen Kreisen immer noch angewendet wird.

    • Philipp Tingler sagt:

      Es ist in der Tat richtig, dass der Wirkungsnachweis für die Psychoanalyse bis heute nicht erbracht ist.

  • Henry sagt:

    Schwere Kost am Morgen. Aber der Herr Dr. unterstellt sicher per se seinen Proselyten hier im Blog das was sein Mentor im Geiste T.M. ein „bewußtes Leben“
    genannt hat. Die selbstreferentielle Abstraktion – und, nun ja, Körpersäfte……

  • Fortunat Reiser sagt:

    Super Artikel, Herr Tingler – einmal mehr!

  • Meinrad sagt:

    Ich verstehe den Text nicht ganz. Was Bolz und Kant in Bezug auf den Willen, die Vernunft und die Autonomie schreiben, passt m.E. nicht zu den Triebenergien, dem Es und Über-Ich. Zitat: „… wenn die Ich-Funktionen, also das Wahrnehmen, Denken, Handeln, zwischen den Triebimpulsen des Es und den Normen des Über-Ich so zu kontrollieren und auszugleichen vermögen, dass die Liebes- und Arbeitsfähigkeit des Menschen erhalten sind.“ Ich zweifle, ob solche Kontrolle und solcher Ausgleich im Sinne von Freud überhaupt denkbar sind, wenn Charakter gleichzeitig Erfahrung (nur) von Autonomie sein soll.

  • Katharina I sagt:

    Herr Tingler, ich finde, Sie haben schöne Gedanken!

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