Der Zauber des Kummerkastens

Ich zitiere aus «Menschliches, Allzumenschliches» von Herrn Nietzsche, meine Damen und Herren: «Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heisst die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in grossem Masse zu verstärken.»
Um ebendies zu bewirken, also: das beschauliche Element zu verstärken, widmen wir uns, wie der treue Leser weiss, in dieser Rubrik gelegentlich jenen Ungleichzeitigkeiten, die wie Speerspitzen der Beschaulichkeit aus unserem spätmodernen Zeitalter von Dry Shampoo und Vanity Sizing ragen. So wollen wir der allgemeinen Entnarrativisierung der Welt entgegenwirken, die nicht zuletzt das Gefühl der Vergänglichkeit so unangenehm intensiviert (wie wir ebenfalls schon bei Nietzsche nachlesen können).

Friedrich Nietzsche. Foto: Wikipedia.
Unsere heutige Ungleichzeitigkeit ist: der Kummerkasten. Siehe Bild oben. Wobei man bei diesem Kasten, den ich, wie unschwer zu erkennen, an der Station der Zürcher Dolderbahn für Sie gefunden habe, nicht nur Kummer, sondern zum Beispiel auch Lob anbringen respektive einwerfen kann. Immerhin hat der «World Happiness Report 2015» der Vereinten Nationen gerade ergeben, dass die Schweiz das derzeit glücklichste Land der Welt ist… allerdings liegt Island auf Platz 2 und die USA befinden sich hinter Mexiko auf Platz 15. Dazu wiederum fällt mir ein Zitat von Denny Crane aus «Boston Legal» ein: «God doesn’t care what happens in Mexico, cause it is already a kind of pre-hell.»
Wo waren wir? Richtig: Dass wir hier alle so furchtbar glücklich sind, ist wohl eher nicht der Grund dafür, dass die Kummerkästen weniger werden. Wahrscheinlicher ist, dass sie, wie so manches, vom Internetz ausgerottet werden. Die Dolderbahn aber ist eine Schatzkammer der Ungleichzeitigkeiten. Ist der Fahrgast nämlich eingestiegen, kann er folgendes Schildchen lesen: «Denken Sie an die Möglichkeit einer Notbremsung und benützen Sie stets die Haltestangen.» Oder, auf Englisch: «In view of the possibility of emergency braking, standing passengers should hold on tightly to the bars provided.» Aww, wenn das nicht altes Europa ist! Glücklich oder nicht. Bis übermorn.
3 Kommentare zu «Der Zauber des Kummerkastens»
Ich halte mich zur Stärkung des beschaulichen Elements an Bob Dylan, Rainy Day Woman: „But I would not feel so all allone / Everybody must get stoned“
P.S: Kein Zweifel, ich bin zu doof „Entnarrativisierung der Welt“ – auch mit copy/paste reklamiert das Rechtsschreibprogramm – mit einer konkreten Bedeutung zu füllen, aber ich glaube, ohne kiffen wäre ich zumindest ähnlich doof, aber es würde mich aber stören.
„Entnarrativisierung“, von Nietzsche erfunden? who knows… tönt jedenfalls gut und hätte andererseits auch Potenzial für das Unwort vom Jahre 2015. Wegen Nietzsche, den sollte man jedenfalls nicht zu wörtlich nehmen, besonders die Schweizer nicht, sonst wären wir im (fragwürdigen)Ranking nicht mehr die glücklichsten. Grotesk das Warn-Schild in dem knapp 1,3 km langen Dolder-Zahnradbähnli wegen Notbremsung. Das ist eine narrative Ueberladung für den Leser oder so. Wenn wir immer alles lesen was wir gar nicht müssten, können wir dann überhaupt „entnarratisiert “ entschleunigen?
Bei Kummer gab es früher den Briefkastenonkel, die liebe Martha oder Dr. Sommer. Heute vermittelt Dr. Tingler sogar den Nietzsche. Aber bitte gewürzt – mit seinen Vorgängern Schopenhauer und Kant.
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