Peinliche Körper

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Heute, meine Damen und Herren, sprechen wir über Scham. Das Fernsehen hat mich dazu inspiriert. Die Scham, die nach Georges Bataille «das Gefühl der Obszönität» ist, stellt ein erworbenes, veränderliches und damit kulturelles Verhalten dar. Ich lese unter anderem gerade «Sex. Eine kleine Philosophie» von André Comte-Sponville. Dort wird der Autor Emile Chartier, besser bekannt als Alain, wie folgt zitiert: «Jede Tugend setzt eine entgegengesetzte Neigung voraus, die von der Tugend bekämpft oder überwunden wird. Folglich ist die Scham als Tugend unauflöslich mit der Schamlosigkeit verknüpft, sie setzen sich gegenseitig voraus und verstärken die Versuchung und das Begehren.»

Diese Ambiguität der Scham hat, auch dies wird erwähnt, bereits Immanuel Kant in seiner Schrift «Mutmasslicher Anfang der Menschengeschichte» von 1786 festgestellt: Die Scham macht eine Neigung «dadurch inniglicher und dauerhafter… dass man ihren Gegenstand den Sinnen entzieht». Verführung und Sublimierung wirken zusammen und verstärken sich gegenseitig.

Was nun die kulturelle Dynamik der Scham anbelangt, so hat der Journalist und Literaturkritiker Ulrich Greiner in seinem im letzten Jahr erschienenen Buch «Schamverlust – Vom Wandel der Gefühlskultur» unter anderem konstatiert, dass einerseits die Sexualscham an Virulenz verlorenen habe, andererseits aber eine stärkere Statusscham an ihre Stelle getreten sei. Also: Das spätmoderne Subjekt hat weniger Skrupel, Nacktselfies von sich anzufertigen und zu verschicken – aber bitte immer auf dem neuesten iPhone.

Falls dieser alltagskulturell hinreichend abgesicherte Tatbestand noch eines Beweises bedurft hätte, so wurde er mir neulich geliefert, als ich mit Richie, dem besten Ehemann von allen, vor dem Fernseher auf dem Sofa lag. Wir hatten eben den «Literaturclub» gesehen, und jetzt schalteten wir weiter und auf MTV lief: «The Valleys». Das läuft schon seit Jahren. Ich hatte das nur nicht so wirklich wahrgenommen. Aber jetzt. Und ich muss sagen: «Jersey Shore» ist der «Literaturclub» dagegen. Schamloser gehts nun wirklich nicht; jedenfalls nicht im Fernsehen. Dachte ich. Aber dann schalteten wir weiter, und auf dem britischen Sender Channel 4 begann «Embarrassing Bodies».

Die Mission letzterer Sendung, die ebenfalls seit Jahren läuft, lautet: Professionelle Ärzte inspizieren mit dem Ziel der Heilung und Destigmatisierung vor laufender Kamera Beeinträchtigungen des Wohlbefindens, welche die allermeisten Leute aus Scham eher ignorieren würden, als damit eine Arztpraxis aufzusuchen. Und eine solche Mission ist ja irgendwie nicht grad in Bausch und Bogen zu verdammen, wenn dadurch Leben verbessert und gerettet werden; mir persönlich ist bloss nicht ganz einsichtig, wieso jemand, der sich aus Scham nicht traut, zum Arzt zu gehen, ohne weiteres vor einem Millionenpublikum die Hosen runterlässt. Passiert aber. Eine weitere faszinierende Volte der Spätmoderne. Und «Hosen runter» kann getrost wörtlich verstanden werden; an besagtem Dienstagabend lief das «Embarrassing Bodies Penis Special». Wie las ich bei Comte-Sponville: «Die Transgression setzt das Gesetz voraus und bestätigt es auf ihre Art. Umgekehrt setzt das Gesetz die verführerische Möglichkeit der Transgression voraus.» Und ich möchte anfügen: Zum Glück kann man immer noch abschalten, bevor die Transgressionen unerträglich werden.

Bild oben: Die Protagonisten aus «The Valleys» scheinen frei von jeglichem Schamgefühl. (PD)

9 Kommentare zu «Peinliche Körper»

  • Henry sagt:

    Ach ja, dazu fällt mir doch noch der Satz ein, der Herrn Freud zugeschrieben wird: „Der Verlust der Scham ist das erste Anzeichen von Schwachsinn“

    • Flinti sagt:

      Freud war wahrscheinlich schon schwachsinnig, denn Scham ist nicht angeboren, sondern wurde uns anerzogen.

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