Die Grenze zwischen dünn und krank

  • Frankreich will per Gesetz vorschreiben, wie dünn Models sein dürfen: Model an der Rosa Cha Frühlingsschau (2009). (Keystone/Diane Bondareff)

  • Dünn oder krank? Der BMI soll das beantworten: Ein Model an der Elle Bangkok Show (2008). (Keystone/Sakchai Lalit)

  • Eiserne Disziplin: Ein Model an der Fashion Week in Paris (2015). (Reuters/Gonzalo Fuentes)

  • Israel hat bereits ein Gesetz gegen den Einsatz von Magermodels: Der Fotograf Adi Barkan fotografiert drei Frauen, wobei die eine gemäss BMI im normalen Bereich ist, eine liegt darunter und im Rollstuhl sitzt eine Frau mit Anorexie (2009). (Keystone/Ariel Schalit)

  • Italien hat bereits BMI-Beschränkungen: Model Isabelle Caro nahm in Italien an einer Kampagne gegen Anorexie teil (2010). (Keystone/Alberto Pellaschiar)

Meine geschätzte Kollegin Bettina Weber hält wenig von den geplanten BMI-Beschränkungen, wie sie gestern erläuterte. Sie vermutet hinter der Übung einen aus dem Neid der Dicken geborenen Aktionismus, der dünne Frauen diskriminiere und das Problem der weltweiten Fettleibigkeit verharmlose. Ich habe dazu etwas zu sagen, weil ich als Teenager selber eine kurze Episode von Magersucht durchlebte. Man kann die Einzelheiten solcher Gesetze diskutieren, aber grundsätzlich halte ich sie für sinnvoll, aus folgenden Gründen:

Regeln wie eine Gewichtsuntergrenze seien gegen die Natur des Modelgeschäfts, sagt Weber. Dünnsein gehöre zu den Qualifikationen eines Models, so wie Basketballer gross oder Bodybuilder muskulös sein müssen. Das ist richtig. Aber das Gesetz besagt ja auch nicht, dass Models nicht dünn sein sollen und künftig nur noch dicke Frauen über Laufstege defilieren. Immerhin kennen Spanien, Italien und Israel schon länger solche Beschränkungen – ohne, dass die Modebranche oder die Laufstege unter der Last fettleibiger Models zusammengebrochen wären.

In Frankreich wird das neue Gesetz als Massnahme gegen Magersucht diskutiert. Das ist tatsächlich etwas irreführend, weil es viele natürlich dünne Frauen gibt, die nicht magersüchtig sind und darunter leiden, dass ihnen das unterstellt wird. Trotzdem irrt Weber auch hier. Es stimmt, dass niemand deswegen magersüchtig wird, weil es dünne Models gibt. Aber es ist falsch, dass der Druck, den viele junge Frauen empfinden, der Zwang zur eisernen Disziplin nichts mit Magersucht zu tun habe. Tatsächlich ist Magersucht nichts anderes, als aus der Kontrolle geratene Disziplin, Disziplin eigentlich der Stoff, nach dem man süchtig wird, geboren aus dem Verlangen, zu gefallen, die Beste zu sein, Kontrolle über sein Leben zu haben. Oft wird Magersucht durch Situationen ausgelöst, in denen junge Frauen unter besonderem Druck stehen: Weil sie in der Pubertät plötzlich zunehmen, weil sie Sportlerinnen sind und mit weniger Gewicht bessere Leistungen bringen, weil sie in Branchen arbeiten, in denen sich alles um ihre Erscheinung dreht. Vielleicht wären sie auch ohne diesen Druck magersüchtig geworden – aber es gibt immer einen auslösenden Faktor.

Das Gesetz sei auch deswegen nutzlos, weil Fettleibigkeit das weltweit viel grössere gesundheitliche Problem sei, sagt Weber und vergleicht hier Äpfel mit Birnen. Das ist, als würde man gegen das Schutzalter von Kindern argumentieren, indem man sagt: Das braucht es nicht, weil sexuelle Gewalt gegen Erwachsene das viel grössere Problem ist.

Weber tut so, als wolle man dünne Frauen diskriminieren, als wolle das Gesetz dicke Models vorschreiben. Doch die Frage ist doch nicht, ob Models dünn sein sollen oder nicht. Sondern wo die Grenze zwischen dünn und krank liegt. Und darauf gibt es eine simple Antwort. Als ich einmal für ein Interview über das Thema Essstörungen eine Psychologin fragte, wo die Grenze zwischen bewusster Ernährung und krankhafter Essstörung liege, sagte sie mir: «Denn es ist normal und gesund, wenn Menschen bewusst essen. Nur kann das auch ins Krankhafte kippen. Und für diese Grenze gibt es eine Formel. Sie heisst BMI.» Eine andere Frage ist es, wo genau man den BMI festlegt. Tatsächlich gibt es sehr dünne Frauen, die darunter leiden, dass man ihnen Magersucht unterstellt. Aber es gibt einen klaren Unterschied zwischen natürlich und krankhaft dünn. Wer natürlich dünn ist, isst – Magersüchtige essen kaum. Wer natürlich dünn ist, menstruiert – Magersüchtige nicht. Man könnte von den Models auch verlangen, dass sie eine Menstruation haben müssen. Allerdings scheint mir die Festlegung eines BMI hier zweckmässiger.

Das Verbot hat nichts mit «Neid» über die «Perfektion» dieser Models zu tun. Auch wer Mode liebt, kann etwas dagegen haben, wenn gesunde junge Frauen sich zu bleichen, hohläugigen und kranken Gestalten hungern müssen, die man mitunter auf den Laufstegen sieht. Nicht zuletzt sollte man sich fragen, wem ein entsprechendes Gesetz gegen Magermodels nützt. Nämlich den jungen Frauen, die, obschon natürlich dünn, allzu oft von den Agenturen unter Druck gesetzt werden, noch dünner zu werden. Und weil Models zudem meist sehr jung und damit in ihrer Persönlichkeit noch nicht gefestigt sind, wäre ein solches Gesetz analog zu den Gesetzen zum Schutz Minderjähriger: Es würde unreife Menschen von den Ansprüchen einer oft perversen Branche schützen.

 

25 Kommentare zu «Die Grenze zwischen dünn und krank»

  • Hotel Papa sagt:

    Bravo!
    Es tat gut, diesen Artikel zu lesen nach dem von gestern.

    • No Model sagt:

      Mädchen,Jungen,die in ihrer Persönlichkeit noch nicht gefestigt sind,trotz genügend Essen,nicht so wachsen wie die Norm,die jahrelang als Skelett und Knochengerüst verspottet und gemobbt werden,sich aufgrund dessen versuchen das Leben zu nehmen,im Erwachsenenalter immer noch nicht zunehmen können,weiter diskriminiert und obwohl gesund als krank abgestempelt werden und ewig den perfidesten Beleidigungen ausgesetzt sind,jenen hat Fr.Weber eine Stimme gegeben,dafür danke ich ihr von ganzem Herzen.Der Mensch der unter dem BMI liegt ist genauso wenig zwingend krank,wie der,der über dem Mass liegt.

  • Hedwig sagt:

    Wie wäre es denn mit einem regelmässigen Fitness-Test? Wer ein paar Liegestützen und Kniebeugen hinkriegt und einige km laufen kann, wird, meines Erachtens, und andere Krankheiten natürlich ausgeschlossen, nicht krankhaft unter- (oder über-)gewichtig sein.
    Wenn es hauptsächlich um die Gesundheit gehen soll, ist der BMI eben kein sehr guter Messwert, zumal es jemandem mit 17.5 noch tiptop gehen, während jemand mit 20 fehlernährt und schwach sein kann. Deswegen finde ich die BMI-Begrenzung, wenn auch nicht falsch, doch etwas einfach gestrickt. Schon ein Körperfett-Mindestmass wäre „fairer“.

  • h.w. ryser sagt:

    Bravo!
    Der Artikel von Frau Weber zum gleichen Thema war wirklich hanebüchen.
    Basketballer sind gross, weil der Korb hoch hängt und Models sind dünn, weil…?
    Ja, warum bloss? Etwa weil sich die Modemacher nicht genug Stoff leisten können?

  • Dirk Malesch sagt:

    Jetzt weiss ich wieder, warum ich Frau Binswanger mehr mag als Frau Weber: Weil die eine findet, die Dicken seien neidisch, und die andere einfach nur gescheit ist.

  • Ich sagt:

    Ich frage mich, wie die Fragestellung an die Psychologin war, dass sie antwortete, die Grenze zwischen einem natürlichen und einem krankhaften Essverhalten sei der BMI.
    Mein BMI war noch nie tiefer als 18.5 oder höher als 23.5, was nichts daran ändert, dass ich seit Jahren an einer Binge-Eating-Störung leide, mit Anfällen von schnell mal gegen 5000 Kalorien. Das soll also gemäss dieser Definition natürliches Essverhalten sein???
    Die Psychologin würde ich aber ganz schnell wechseln.

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