Niedlichkeit als Leitwert

Ich kam aus dem Training, meine Damen und Herren, und sah diesen Koffer im Schaufenster. Ich will auch so einen! Okay, nicht wirklich. Aber dieser Koffer zeigt uns zweierlei: 1. Dass die Diskussion um sogenannte «gendered toys» vor allem eine theoretische ist. 2. Dass Kinder nicht selten einen fürchterlichen Geschmack haben. (Ich hoffe, dieser Koffer wendet sich an Kinder.) Das liegt an ihrem fehlenden Distanzvermögen und wäre kein grosses Problem (und war jahrhundertelang auch keines), wenn nicht die allumfassende Infantilisierung ein Zeichen unserer Zeit und ihrer eskapistischen Populärkultur wäre.
Diese Infantilisierung äussert sich einerseits in einer zunehmenden Albernheit (Albernheit ist nicht das Gegenteil von Ernsthaftigkeit, sondern das Gegenteil von Bedeutung) und andererseits in der Etablierung von Niedlichkeit als Leitwert im verbliebenen Bedeutungsraum: Animationen, Youtube-Filmchen, Automobile, Cupcakes, Popmusik: Alles muss süss und niedlich sein. Oder, wie Jim Windolf in «Vanity Fair» zu der «give-up culture of cuteness» schrieb: «Cute culture is soft and brain-deadening. It privileges the inner child, who, necessarily, has awful taste.»
Offenbar scheinen wir sonst diese Zeiten von Konflikt und Krise, Technisierung und exuberierenden Ansprüchen an den flexiblen und mobilen Menschen gar nicht aushalten zu können. Deshalb sollen wenigstens die uns umgebenden Dinge bitte korrekt, freundlich, drollig und verträglich daherkommen. Das Gegenteil von Rock ’n‘ Roll. Unser Kulturraum befindet sich dem Anschein nach auf einer Rutschpartie: von Coolness über Cuteness zur Correctness. Die niedliche Wohlerzogenheit steht am Ende dieser Bahn der Infantilisierung und hat ihre Arme ausgebreitet, uns aufzufangen.
8 Kommentare zu «Niedlichkeit als Leitwert»
(kleine) mädchen wollen ponys. ich auch. am liebsten vom heissen stein.
Lieber Dr. T., Sie sind immer gut und es ist immer gut, Ihre Kolumne zu lesen.
Aber Sie sind am besten, wo Sie gesellschaftskritisch sind.
Chapeau.
Word!
Volltreffer! Ich wohne in der Agglo von Zürich in einer familienfreundlichen Siedlung (Stockwerkeigentum) und kann diese Analyse nur bestätigen. Lieber Gott, gib uns unsere tägliche Kinderschokolade und erlöse uns vor allem, was nicht süss ist! Der Infantilismus zeigt sich u.a. darin, dass man Schwachsinn lustig findet und Scharfsinn empörend. Wir haben eine Wohnung gekauft und wohnen in einem Kindergarten. Rock’n’Roll? Hier schreien sich nur verzogene Gören die Seele aus dem Leib. Die Erwachsenen finden es schön und applaudieren.
Haha, selber schuld! Man kauft sich auch keine Wohnung in einer familenfreundlichen Siedlung.
„wenn nicht die allumfassende Infantilisierung ein Zeichen unserer Zeit und ihrer eskapistischen Populärkultur wäre“ – Mit allem Respekt, aber hier unterliegt der Autor meiner Meining nach einer schweren Täuschung. Wenn uns die Kulturgeschichte wie eine Aneinderreihung von Hochkultur und Niveau vorkommt, dann doch nur aus dem Blick auf die Teile der Kultur, die überlebt haben. Da diese meist einen mehrfachen Istdaskunstoderkanndaswegprozess überlebt haben, sind die banalen Elemente der Alltags-und Populärkultur einfach mit grösserer Wahrscheinlichkeit verschollen.
Während des angetönten (Selektions-)Prozesses scheinen (auch heutzutage) aktuelle Infantilitäten und Banalitäten natürlich noch auf, um nach Ablauf des Prozesses zu verschwinden oder ins Verschollen-Sein abzusinken. Aber es folgt unmittelbar ein neuer Prozess unter Anderem mit neuen Banalitäten.
Gute Analyse, vielen Dank.