Wie geht Kunst?

Letzte Woche haben wir an dieser Stelle von der Bedeutung von Verbindlichkeiten gesprochen, meine Damen und Herren, und die sich logisch daran anschliessende Frage ist die nach dem Verhältnis von Kunst und Verbindlichkeit. Denn die Sehnsucht nach Verbindlichkeit ist (auch) die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, und es gibt Künstler, wie zum Beispiel Thomas Mann, die in der Spannung zwischen der Sehnsucht nach Zugehörigkeit und jenem Pathos der Distanz, das sich aus einem schicksalhaften Aussenseitertum ergibt, eine Grundbefindlichkeit, wenn nicht sogar eine Conditio sine qua non des Künstlertums gesehen haben. Der Künstler wird hier sozusagen geprägt von seiner Stellung zwischen den Welten, seinem Wunsch nach Zugehörigkeit und ungebrochener Teilhabe am Leben einerseits und der leisen Verachtung dieses Lebens von der Warte der eigenen Vorzüglichkeit herab, dem Gefühl, nirgends wirklich dazuzugehören, andererseits.
Ob aber dieser Zwiespalt nun tatsächlich konstitutionell für das Wesen des Künstlers sei oder nicht – die künstlerische Betätigung scheint, wenn sie diese Kennzeichnung verdient, zunächst diejenige Ausdrucksform zu sein, die von allen menschlichen Ausdrucksformen die unverbindlichste ist. Kunst, die Verbindlichkeit anbietet, ist keine Kunst, sondern Tendenz. Diese zeitlos gültige Weisheit aus der Ära der grossen Propagandaschlachten sollte man sich gerade heute immer wieder vor Augen halten, denn wir leben in einer Zeit, in der die Beurteilung vermeintlicher Kunst bloss nach ihrer Botschaft in schlimmster Blüte steht.
Originalität ist kein Kriterium für Qualität
Natürlich ist die Frage nach Verbindlichkeiten ein Dauerthema der schönen Künste, aber diese Frage ist, um gleich ein weiteres literatursoziologisches und sozialphilosophisches Missverständnis auszuräumen, bei weitem nicht ihr einziges Thema. Kunst kennt andere wichtige Themen, die in ihrer reinsten Form mit Verbindlichkeit a priori gar nichts zu tun haben, zum Beispiel Liebe.
Es bestehen aber selbstverständlich insofern Beziehungen zwischen Kunst und Verbindlichkeit, als ewige formale Verbindlichkeiten gelten, anhand derer man Kunst erkennen und beurteilen kann. Die Spanne zwischen Kunst und Ramsch wird nämlich immer so breit bleiben wie der Grand Canyon. Während nun Kitsch im Gegensatz zu Kunst an der inhaltlichen Konvention erkennbar ist, so ist die gestalterische Konvention ganz einfach ein Regelkanon zur qualitativen Beurteilung von Kunst. So lässt sich beispielsweise anhand der sprachlichen Qualität (und nur anhand von dieser) gute Literatur von schlechter unterscheiden, und «sprachliche Qualität» ihrerseits ist ein traditioneller verbindlicher Wert, der sich wiederum aus verschiedenen Komponenten zusammensetzt: Ausdrucksstärke von Adjektiven, Rhythmizität der syntaktischen Struktur, Evokationskraft von Metaphern usw. Originalität hingegen ist, einer landläufigen Feuilletonistenmeinung zum Trotz, per se nie ein Kriterium für künstlerische Qualität.
Nur wer die Form kennt, darf sie brechen
Jetzt würden gewisse Leute einwenden, derartige Kriterien seien lediglich subjektiv erfahrbar und daher nicht verbindlich, doch dieser Einwand ist billig und liesse sich gegen viele Konventionen vorbringen, die ohne weiteres als verbindlich akzeptiert werden, zum Beispiel dass man Streifen nicht zu Karos trägt, weil das behämmert aussieht. Dass etwas verbindlich ist, merkt man vielmehr vor allem daran, dass seine Verletzung uns unangenehm berührt – so wie jeder einigermassen ordentlich erzogene und geschmackssichere Mensch sich beim Anhören von Texten, die bloss aus blassen parataktischen Reihungen bestehen, nach kurzer Zeit fühlen muss, als hätte er einen Schuss aus dem Betäubungsgewehr bekommen.
Für Kunst und Literatur gilt vielmehr, wie für die richtigen Manieren, die überaus verbindliche Regel: Nur wer die Form kennt, darf sie brechen. Andernfalls ist man nicht revolutionär, sondern blamiert. Na ja, vielleicht auch bloss in meiner Welt. Bis übermorn.
Bild oben: Kunst, die zu viel Verbindlichkeit anbietet, wird zu Propaganda – ein Beispiel aus China. Pedro Simoes, Flickr.
11 Kommentare zu «Wie geht Kunst?»
Ein sehr schöner Text, die Ansicht allerdings, man könne Streifen mit Karos nicht kombinieren, teilen Edward VIII und ich nicht.
Wenn man dem einzigen Unterscheidungskriterium zwischen guter und schlecher Literatur dem Herrn Doktor folgen möchte, ist er wohl kein großer Freund zeitgenössischer Literatur.
Gute Kunst ? Gibt es nicht- überhaupt nicht. Gibt es gute Transzendenz? Sicher nicht. Wer so fragt ist grundsätzlich auf dem Holzweg, da hilft keine gewundene Formulierung. Man kann sich wohl fragen, was ist Kunst – aber das ist ein anderes Kapitel. Vermutlich ist aber die Antwort darauf nicht so kompliziert, wie der Versuch von Philipp Tingler, „gute Kunst“ zu definieren.
Ein Werk, das denkende , sensible Menschen weckt, pos. oder neg. aufwühlt, zu Taten anspornt, kann als Kunst bezeichnet werden. Ob das Werk nun gute oder schlechte Kunst ist hängt von der ethisch-moralischen Einstellung des Betra chters ab. Ist also subjektiv. Objektiv gesehen, wenn das Werk pos. bildend, innovativ anregend ist, wäre es als gut zu bezeichnen. Wenn es negativ, abstossend, respektlos, nihilistisch wirkt, ist es schlecht, auch wenn es künstlerisch, qualitativ als Kunst bezeichnet werden muss. Es gibt also gute und schlechte Kunst, aber beides ist Kunst. Was lieben Sie??