Man kann Ideen nicht erschiessen

Nie in den letzten zehn Jahren hat mich ein weltpolitisches Ereignis so erschüttert wie die Terrorattacke auf das französische Satiremagazin «Charlie Hebdo». Vielleicht, weil die gezielte Hinrichtung mitten im Herzen Europas so unfassbar ist. Vielleicht, weil Journalisten getötet wurden. Vielleicht, weil der 7. Januar unser 11. September ist. Ein Ereignis, das seine Wirkung erst entfalten wird. Im Moment weiss niemand, wie das geschehen wird. Sicher ist: Daran wird sich zeigen, wer wir wirklich sind.
Als mich die Nachricht gestern im Büro erreichte, war ich schockiert. Unfähig, weiterzuarbeiten, einen klaren Gedanken zu fassen. Es gibt Dinge, die so aussergewöhnlich sind, dass der menschliche Geist sie nicht im Augenblick erfassen kann, etwa ein Tod im engsten Umfeld. Oder ein Unfall. Ihre Wirkung ist so dramatisch, dass man sie zwar rational einordnen, aber emotional nicht bewältigen kann. Umso intensiver kreist der Geist darum. Erst im Laufe der Zeit kristallisiert sich heraus, was sie eigentlich bedeuten. Bis dahin bleibt nur der Sturm der Gefühle.
Weil ich nicht denken konnte, beschloss ich gestern meine Reaktion zu protokollieren. Und die ging etwa so: Die Nachricht erreicht mich an einem Bürotag, an dem ich nicht im Newsroom bin. Ich gehe mir im Netz anschauen, was passiert ist. Und bin erschüttert. Schockiert und fassungslos. Was ist da geschehen? Es folgt der Versuch, das einzuordnen, etwas dazu zu denken. Auf Social Media wird bereits eifrig diskutiert, dass nämlich die Presse das Ereignis falsch abdeckt. Zu sensationsgeil, nur auf die Klickrate fixiert, die Lügenpresse, wie man das heute nennt. Als ginge ein solches Ereignis nicht gerade den Journalisten durch Mark und Bein. Ich bin Journalistin, und deshalb prüfte ich mich kurz, ob meine Erschütterung bedeuten mag, dass ich mich in irgendeiner Weise daran ergötze. Die Antwort ist ein entschiedenes Nein.
Ich sitze vor dem Computer und bin auch eine, zwei Stunden später noch fassungslos, mehr sogar als vorher. Ich kämpfe mit den Tränen – war ich je so emotional bei der Arbeit? Ans Schreiben, an Themen, die nichts mit dem Anschlag zu tun haben, ist nicht zu denken. Ich gehe rüber in den Newsroom, habe das Bedürfnis, mit den Kollegen zu sprechen. Es geht allen ähnlich. Man konzentriert sich darauf, Faktenstückchen zusammenzutragen. Die Welt ist alles, was der Fall ist, und daran hält sich der Mensch angesichts einer Katastrophe meistens: Wann ist es geschehen, wie hat es sich ereignet, was war Ursache und was Wirkung?
Es folgen öffentliche Reaktionen. Politiker mahnen zur Einheit, sagen: «Wir werden alles tun, die Täter zu fassen.» Unsere Bundesrätin sagt: «Satire ist kein Freipass.» Was für ein Hohn!
Der Nachmittag entfaltet sich ganz im Lichte des Terroranschlags. Immer wieder die Frage, was jetzt passieren wird. Wo finden die Verschiebungen im Weltgeschehen statt und wie? Schliesslich ist es Zeit, nach Hause zu gehen. Nach der Betroffenheit und Trauer folgt auf dem Heimweg die Wut. Fiese verdammte Schweine. Destruktion, Chaos, Wut und Verzweiflung zu streuen, ist so einfach. Es braucht so wenig. Ich schaue mich auf der Strasse um. Alles normal. Die Leute laufen heim wie immer.
Diskutieren am Telefon ihre Geschäfte oder das Abendessen. Aus den Autos dröhnt Musik. Am Bahnhof zittern die Junkies. Es ist kein Weltkrieg, es sind nur eine Handvoll Irre, die uns bedrohen. Aber wir alle wurden getroffen, auch jene, die jetzt so ahnungslos ihrer Wege gehen. Und ich weiss, dass sehr, sehr viele Leute wütend werden und dass diese Wut Gift ist.
In den digitalen Kommunikationskanälen sind alle entsprechend aufgeregt. Es gibt nicht nur Wut, sondern auch Trauer, Entsetzen und Pathos. Über Letzteres wird man sich, sobald sich die Aufregung etwas gelegt haben wird, bestimmt wieder lustig machen. Allerdings scheint es momentan tatsächlich angebracht. Denn attackiert wurde Europa, das Herz Europas und eine Idee. Die Idee der Freiheit und der Aufklärung. Deshalb ist das Ereignis auch so schwer fassbar. Kann man Ideen erschiessen? Was man kann, ist Chaos stiften, im Versuch, eine neue Ordnung herbeizuführen. Wenn wir das zulassen. Und das dürfen wir nicht.
Heimfahrt mit einem Freund, wir sprechen über die Attacken, und wir sprechen über unsere Familien. Ich esse mit meinen Kindern, obschon ich mit dem Ohr am Radio kleben möchte. Weil ich wissen muss, was mit diesen Terroristen passiert. Die Wut hat sich inzwischen gelegt, nicht aber der Aufruhr. Es folgt das Bedürfnis nach Trost. Jazz hören. Voltaire lesen. All das feiern, was nur durch die Freiheit entstehen kann. Nein, man kann eine Idee nicht erschiessen, ihr Terroristen und Mörder! Denn diese Idee ist buchstäblich unsterblich.
Bild oben: Sinnbildlich für Trauer, Entsetzen und Pathos liegen Farbstifte, Blumen und Kerzen vor der französischen Botschaft in Berlin. Foto: Markus Schreiber (AP, Keystone)
39 Kommentare zu «Man kann Ideen nicht erschiessen»
Die ganze Empörung ist zwar verständlich aber sinnlos. Die Opfer können nicht mehr lebendig gemacht werden. Im Nachhinein ist man immer klüger, aber das Attentat war absehbar, da Drohungen vorlagen und die Brutalität von IS und Konsorten ausreichend bekannt ist. Fazit: Die Provokationen waren leichtfertig, ein kalkulierbares Spiel mit dem Feuer und die Sicherheitsvorkehrungen waren dilettantisch, der Gefahr nicht angemessen. Wer so provoziert gefährdet nicht nur sich selbst, sondern auch andere. Niemand weiss, auf welche Weise der Prophet das nächste Mal gerächt wird.
Als MENSCH und nicht
als Politiker(in), Parteigenosse(in), Glaubensfanatiker(in), Reporter(in), Pressevertreter(in), Satiriker(in), Zeichner(in) sollen sich ALLE Menschen
folgenden Fragen stellen und für sich persönlich beantworten:
1. Was ist wenn sich jeder Mensch „die Freiheit“ nimmt seine Mitmenschen, in welcher Funktion auch immer, mit spitzer Feder darzustellen ?
2. Was rechtfertigt die Wahrnehmung – auch Satiriker dürfen sich nicht alles erlauben – so darzustellen, als ob dies eine Rechtswidrigkeit sei ?
3. Ist „Freiheit“ der richtige Begriff wenn rechts- und gesetzesfreie Handlungen legalisiert werden wollen ?
4. Ist es mir persönlich als MENSCH heute überhaupt noch möglich mit eigenem Denken zu analysieren ?
5. Ist Menschenpflicht nicht ebenso erforderlich wie Menschenrecht ?
09.01.2014/fa
A. Furrer, nickende Zustimmung.
Sehr geehrte Frau Binswanger,
ich bin zwar selten exakt Ihrer Meinung, aber man kann sein Gefühlschaos und die Erschütterung unserer, hoffentlich, gemeinsamen Grundwerte nicht treffender und trotzdem ermutigender formulieren, wie Sie es in diesem Blog getan haben.
Kunst, Satire darf nicht alles. Und es ist egal, ob Cartoons vom Kukluxklan, lustigen rechten oder linken Parteien oder Journalisten kommen. Lesen Sie Cicero: Ehre und Selbstachtung sind besonders wichtig bei Wesen die abhängig, verletzlich sind. Junge Muslime sind oft klar auf der Verliererseite der Gesellschaft, stigmatisiert. Ich möchte die anschliessende furchtbare Tat ABSOLUT nicht rechtfertigen. Es geht mir nur darum: Für jeden Menschen gibt es Grenzen die zu respektieren sind und bei gegenseitiger Interessenabwägung aus menschlichen und ethischen Gründen geschwiegen werden sollte.