Der digitale Stil

«Wir sind eine imitative Spezies», habe ich gerade bei Fontane gelesen, meine Damen und Herren, «Nachahmen ist unser grösster Hang, und was die Reichen und Vornehmen tun, das tun wir auch, ohne Kritik, ohne Frage, ob es uns passt oder nicht.» Das stimmt heute wohl noch mehr als zu Fontanes Zeiten. Denn die technischen Möglichkeiten der Imitation sind für den durchschnittlichen spätmodernen Menschen so umfassend wie nie: Heute kann, zumindest virtuell, jeder Prominenz imitieren oder Talent. Jeder kann veröffentlichen. Und viele meinen, dass darunter die Qualität des veröffentlichten Wortes leide, ja, dass beispielsweise die Qualität des zeitgenössischen Journalismus sozusagen bereits unterm Leichenstein liege; dass im Klickdruck und in der Überflutung mit audiovisuellen Reizen die Beziehung zur Schrift, zur Textkritik verloren ginge. Dass der sogenannte Qualitätsjournalismus höchstens eine Phrase, eine Chimäre noch wäre, im günstigsten Fall eine Ausnahme. Er lebe fort in den Archiven, doch sei erstorben in den Herzen. Yadayadayada.
Sie merken: Dies finde ich nicht. Es gibt viele fabelhafte Texte und Geschichten im Internet (besonders im angelsächsischen Raum) und viel Schrott im klassischen Printsektor (besonders im deutschsprachigen Raum). Aber schreibt man online grundsätzlich anders als im Print? Gibt es einen digitalen Stil? Darüber habe ich anlässlich des 5-Jahr-Jubiläums der Newsnet-Blogs nachgedacht, und das Ergebnis lautet: Für mich ist die Grundregel guten Stils in allen Formaten dieselbe. Genauer gesagt handelt es sich um drei Regeln, die ich Ihnen hier gerne aufliste (Sie wissen ja, dass ich eine Schwäche fürs Auflisten habe):
1. Das Unkonventionelle wird als künstlerischer Wert gemeinhin überschätzt.
2. Gerade deshalb ist es wichtig, dass dem Charaktervollen (wie unschön es sein möge) vor dem bloss Konventionellen der Vorzug gebührt.
3. Das Konventionelle aber muss trotzdem beherrscht werden.
Stets eckt das Charaktervolle natürlich mehr an als das Konventionelle. Aber das war schon immer so. Der dienstfertige Schleppenträger des Mittelmasses huscht meist unbehelligt in die Kathedrale. Verzeihen Sie die wilde Metapher. Manchmal handelt es sich auch um eine Schleppenträgerin.
Man sollte also nicht anders schreiben, wenn man digital schreibt. Aber man tut es bisweilen. Wenn den digitalen Stil irgendetwas per se auszeichnet, zumal für das Format des Blog, dann ist es die gefühlte grössere Gesprächsnähe. Also ein spontanes Element: die Formalien sind nicht so rigide (man kann ein Wörtchen wie «drei» selbst kursiv setzen, wie herrlich); die Reaktionen erfolgen unmittelbarer. Deshalb flechte ich vielleicht bei meinen Blog-Beiträgen noch häufiger so Sachen ein wie «Sie wissen ja, dass ich eine Schwäche fürs Auflisten habe». Andererseits bin ich auch kein Journalist. Ich bin Schriftsteller. Das kann ebenfalls jeder werden, heutzutage. Und so lassen Sie mich diesen Jubiläumseintrag mit einer allgemeinen Bemerkung schliessen, deren erfrischende Nüchternheit Sie vielleicht inspirierend finden. Es handelt sich um ein Zitat der von mir verehrten Autorin Fran Lebowitz. Die erwiderte einst auf die Frage «Brauchen wir mehr schwarze Autoren?» völlig zutreffend: «Nein. Wir brauchen weniger Autoren. Von jeder Sorte.» Wie wahr. Stimmt für jede Form des Schreibens.
Happy Birthday, Blogs! 15 verschiedene Blogs, mehrere tausend Beiträge und weit über eine Million Kommentare: Da stehen wir nach fünf Jahren. Die Blogs gehören heute zum festen Inventar von tagesanzeiger.ch. Nationale Bekanntheit haben nicht nur die Klassiker wie der Mama- oder der Sweet-Home-Blog erlangt. Auch neuere Blogs, wie etwa «Manage Your Boss» oder «Welttheater», fanden schnell Anklang bei den Leserinnen und Lesern. Grund genug um nach fünf Jahren Geburtstag zu feiern. In den kommenden zehn Tagen feiern wir unsere Blogs mit speziellen Postings. Und in Videos und weiteren Blogpostings gewähren wir Ihnen einen Blick hinter die Kulissen, porträtieren Autoren – und schreiben über unseren Umgang mit Kommentaren und Kommentarschreibern. Fehlt noch was? Ja! Erst durch die Kommentare von Ihnen, liebe Userinnen und User, entstehen spannende Diskussionen und Debatten. Ein herzliches Dankeschön dafür.
Sie finden alle Jubiläums-Beiträge hier.
8 Kommentare zu «Der digitale Stil»
Ich wünsche auch einen guten Geburtstag! Und ich wünsche mir auch weniger Autoren und mehr Tingler! Kristallglasheb.
oho. die katharina primera tut es auch noch geben! he, noch immer verliebt, oder wieder on-line?! 🙂
klar schreibt man online anders, dass kann man an jedem Blog erkennen, wie diesem zum Beispiel: http://salt.ch/ Da schreibt ein Freund von mir mit, der normalerweise ganz anderes redet und schreibt