Das Auto sagt alles

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Also, meine Damen und Herren, ich finde ja diese «Baby an Bord»-Aufkleber fürs Auto ziemlich schlimm, schon immer, aber jetzt gibt es irgendwie eine noch fiesere Variante davon, nämlich den personalisierten «Baby an Bord»-Sticker, in der Art wie: «Annalena an Bord». Oder «Sören-Pascal an Bord». Sie wissen schon. Danke für Backobst. Too much information.

Sind diese Babykleber jetzt das neue Tuning? Selbstverständlich dürfen wir davon ausgehen, dass die Herrschaften am Steuer der dazugehörigen Grossraumlimousine bei «Tuning» die Nase rümpfen, weil sie hierunter zweifellos die Herrichtung und Fetischisierung von fahrbaren Untersätzen durch Leibchen tragende Herren der mittleren und unteren Mittelklasse (passend zu den Fahrzeugen) imaginieren. Weitere Assoziationen: konventionelle Geschlechterrollen, billiges Imponiergehabe, Bildungsferne, Prekariatsnähe. Nun. Seis drum. Ich möchte demgegenüber, wie Sie es von mir gewohnt sind, eine andere These vertreten: Sofern man unter Tuning korrekterweise die gezielte Modifikation und Individualisierung des vermeintlichen Massenprodukts Auto versteht – ist jeder von uns ein Tuner. Auch die Person mit dem Blümchentuning, das ich oben für Sie fotografiert habe.

Durch Tuning wird das Auto individualisiert und zugleich anthropomorphisiert, indem es im Sinne der modernen Konsumtheorie zur Projektionsfläche avanciert: Der Wagen soll ein Set von (idealen) Eigenschaften seines Besitzers widerspiegeln. Nun ist aber Individualisierung in der Warenwelt gerade das Gebot der Stunde und des Zeitgeists; die automobilen Individualisierungsvarianten ab Werk haben längst das Premiumsegment verlassen. Heutzutage werden uns schon Klein- und Kompaktwagen mit schillernden Paletten scheinbar unendlicher Gestaltungs- und Modifikationsmöglichkeiten angeboten.

Dieses leichte Paradox der Individualisierung per Katalog durch Dekoration und Ausstaffierung des fahrbaren Untersatzes entspricht, sozialpsychologisch gesehen, genau einem Zwiespalt, der grundsätzlich in der menschlichen Psyche angelegt ist, sich im hochmobilen spätmodernen Subjekt aber zuspitzt: Man aspiriert einerseits darauf, aus der Anonymität zu treten und Signale und Marken der Eigenheit zu setzen; andererseits will man bemerkt werden, und zwar bitte im positiven Sinne, also anerkannt sein.

Das vermenschlichte Automobil

«Nothing behind me, everything ahead of me, as is ever so on the road», schrieb demgegenüber einst Jack Kerouac in «On the Road» und traf damit das amerikanischste Motiv der Ära der Mobilität: travel on in search of a better life. Das legt auch eine Rolle für das Automobil fest, als Manifestation der individuellen Beweglichkeit. Die postmoderne Dingkultur versteht Sachen mehr denn je als Requisiten und Ausstellungsstücke einer Biografie, fast jedes Imagedesign jedes Produkts ist heutzutage von vornherein daraufhin angelegt, eine Vermenschlichung der dahinterstehenden Marke, und damit die Identifikation mit ihr, zu erleichtern. Dies hat der Konsumforscher und Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich in seinem Buch «Wohlstandsphänomene» festgestellt – und das Produkt Auto bildet hier selbstverständlich keine Ausnahme, im Gegenteil, die Automobilindustrie setzt auf Vermenschlichung, und der Mensch, auch das überinformierte und abgebrühte und wellnessgestresste postindustrielle Subjekt mit seiner Neandertalerausstattung, neigt sowieso dazu, das Auto zu vermenschlichen, weil es sich bewegt und weil es ein Gesicht hat. Und weil es Emotionen auslöst. Emotionen, die beim Automobilisten sein Autokaufverhalten, seine Fahrweise und die Identifikation mit dem fahrbaren Untersatz beeinflussen.

Und hier nun kommt der erwähnte Zwiespalt zwischen Individualisierung und Anpassung ins Spiel, denn von Ausdruck und Ausstrahlung des Autos wird zurückgeschlossen auf den Fahrer. Und dies zeigt uns etwas sehr Interessantes. Tuning ist ja quasi das automobile Äquivalent zur plastischen Chirurgie: die Veränderung und mutmassliche Perfektionierung der Oberfläche getreu dem Optimierungsdogma der digitalen Leistungsgesellschaft. Und wenn es nun also beim Tuning auch vordergründig um Darstellung und Ostentation von Individualität geht, so bleibt doch stets – ebenso wie bei der plastischen Chirurgie, die für den Selbstperfektionierungsanspruch ihrer Klienten heutzutage eine ähnliche Funktion zu erfüllen hat wie vor einem halben Jahrhundert die Psychotherapie – die Anerkennung der anderen ein wichtiges Ziel und Motiv. Hier liegt eine direkte Verbindung zwischen Tuning und «Social Tuning», jenem Konzept der Sozialpsychologie, nach dem innerhalb einer kohärenten Gruppe oder Kohorte eine gewisse stromlinienförmige wechselseitige Anpassung der Meinungen und Attitüden erfolgt. Die in solchen interaktiven Lernprozessen entstehenden und gefestigten Beziehungen spielen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Selbstwert und Selbstbild des Einzelnen. Ich will also anders sein, aber ich will auch Anerkennung. Genau diese Ambivalenz führt zur Entstehung von: Moden. Moden und ihren ewigen Wellen. Mit Blick auf den fahrbaren Untersatz bedeutet das: Der erste Zahnarzt, der auf eine Harley Davidson stieg, war ziemlich cool. Der viertausendfünfhundertdreiundsiebzigste – weniger.

Das Modephänomen gibt es, seit der Verkehr begann: Karosserien ändern sich – und ändern sich wieder, Formen kommen aus der Mode, Botschaften werden geändert, fallen gelassen und wieder aufgenommen. Jetzt aber, in der digitalen (manche meinen sogar: postdigitalen) Gesellschaft, kommt ein ganz anderes Phänomen dazu: Der ambivalente Prozess der Individualisierung verbindet sich sowohl in der virtuellen Welt wie IRL (= «in real life») mit: dem Terror der Mitteilung. Die Botschaften werden aufdringlich. Ich will nicht wissen, wie die Bälger der Leute vor mir im Stau heissen. Das ist Mikroaggression. Wie überhaupt dieser ganze Tsunami indiskreter Technologien und der triviale Überschuss an Gegenwart, wo jeder uns mit seinen Smartphonefotos behelligt. Und man sehnt sich zurück nach den Zeiten Kerouacs, nach der Vorstellung that all frontiers must lead to a promised land. Aww, the trailblazing spirit of the USA, the direction of progress, future; the sky, sea, tarmac, the light in Los Angeles on a Sunday afternoon, the utterly large imported palm trees of Beverly Hills. Und alsbald muss man auf die Frage, welche Autos eignen sich in unserer postpostmodernen Ära des überstrapazierten Zitats eigentlich noch für Individualisten, wohl antworten: die konventionellen. Oder die jenseits der Mode. Alles, nur keine Grossraumlimousine.

10 Kommentare zu «Das Auto sagt alles»

  • Axel Reichelt sagt:

    Auf. meinem Sticker steht: Herodes on Bord ,

  • Henry sagt:

    Individualisierung ? Die gab’s zu der Zeit, als man ein Fahrgestell zu Erdmann & Rossi schleppte und dort dem zuständigen Herren schilderte, wie der Karosserie auszusehen habe. Das hat nichts mit „Designo“ oder „Individual “ zu tun ( denn dies kann man im sartorialen Vergleich nicht einmal mit „made to measure“ beschreiben) schon gar nicht mit irgendwelchen andersfarbigen Plastikleistchen im average car auf „Habenichts- Leasing“.

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