Trennen und Loslassen

Also, ich weiss ja nicht, wies Ihnen geht, meine Damen und Herren, aber ich für meinen Teil kann nicht so furchtbar gut loslassen. Jedenfalls nicht bei was Schönem (bei schrecklichen oder langweiligen Phänomenen hab ich hingegen überhaupt keine Probleme). Vielleicht liegt das daran, dass damals West-Berlin unterging. Vor einem Vierteljahrhundert. Und darum soll es im Folgenden gehen. Nein, nicht um den Untergang West-Berlins. Sondern: um Abschied, Trennung, um das Beenden einer Ära oder auch nur eines Abschnitts. Wir haben in diesem Magazin bereits die Tugend des Rausschleichens gewürdigt. Nun aber behandeln wir die allgemeine Kunst des Loslassens und Losgehens. Oder die Qual. Der Abschied ist Teil unseres Lebens, unseres Berufs-, Gesellschafts-, Familien- und Liebeslebens. Selbstverständlich wohnt den Trennungsmomenten in diesen verschiedenen Sphären des Sozialen eine unterschiedliche Qualität inne – und doch lassen sich all diese Milieus erfassen durch eine bestrickend einfache Fünfer-Kategorisierung, die ich im Folgenden entwickeln und anwenden will, wenn ich mich im Sinne einer Klärung und Benimmhilfe den verschiedenen Arten des Abschieds widme und Ihnen die Verhaltensstrategien dazu anbiete: die jeweilige Exit Strategy, if you’ll pardon the pun. Sie wissen ja: Eine Exit-Strategie hilft Ihnen im schlimmsten Fall wenigstens, Ihr Gesicht zu wahren; im Regelfall aber sorgt eine gute Exit-Strategie für den schonendsten Rückzug, also den mit den geringsten sozialen und sonstigen Kosten. Und das ist regelmässig für alle viel günstiger als das weitergehende Engagement. Auf gehts. An erster Stelle steht:
1. Der tränenreiche Abschied
Um die Wahrung des Gesichts im besten (und sehr wörtlichen) Sinne geht es bei dieser ersten, der schlimmsten Form des Abschieds: bei dem Abschied, den keiner der Beteiligten will und der dennoch sein muss, ganz einfach weil das Leben es so vorsieht, das Leben, das seinem eigenen Skript folgt und sich bisweilen wenig darum schert, ob wir dessen Knalleffekte stillos finden. Deshalb ist, wenn Sie mich fragen, auf Knall am besten hier mit Knall zu reagieren, das heisst: schnell und kurz muss der Abschied sein, der alle schmerzt. Es bleibt die Hoffnung auf ein Wiedersehen. Manchmal.
2. Der indifferente Abschied
Im Geschäftsleben die häufigste Form. Aber auch im familiären Bezugsfeld weitaus häufiger als allgemein unterstellt oder zugegeben: Beide Seiten freuen sich, sich zu sehen, und sind ebenfalls nicht traurig, sich wieder gehen zu sehen. Standardfall auch bei beginnenden Bekanntschaften – und überhaupt im sympathischen, aber unverbindlichen Verkehr. Endlich mal eine problemlose Variante.
3. Sonderform: Der indifferente romantische Abschied
Die Frage «Wie verabschiede ich mich nach einem One-Night-Stand?» haben wir auf diesen Seiten ebenfalls bereits behandelt. Nun aber gehört in diese Kategorie ebenfalls die Person, mit der Sie gestern Abend ein wirklich schreckliches Date hatten und die nichts Eiligeres zu tun hat als heute gleich wieder anzurufen. Oder auch der Fall der erkalteten Liebe, wenn also ein Mensch Sie tatsächlich einige Zeit lang romantisch interessiert hat. Neuerdings ist ja DOTD die Mode, und das steht für «Drop On Third Date». Schliesslich muss man sich ja erst mal prüfen. In der Sprache der Betriebswirtschaftslehre lautet hierzu das Analogon nicht selten: Abschöpfungsstrategie mit schrittweisem Rückzug. Denn manche Leute halten einfach keiner näheren Inspektion stand, obschon sie aus der Ferne ganz attraktiv wirken (so wie manche Städte vom Flugzeug aus nett aussehen und die Hölle sind, wenn man sie zu Fuss durchquert). Grundsätzlich gilt für diese Kategorie: Es ist immer am günstigsten, der Zielperson die Illusion zu verschaffen, diese selbst habe den Kontakt beendet. Die Wege dorthin sind mannigfaltig und regelmässig mit groben Lügen verbunden, aber eines sollten Sie an dieser Stelle schon gelernt haben: Keine Scheu vor Lügen, auch nicht vor groben! Halten Sie sich immer wieder vor Augen: Die gesellschaftliche Etikette ist im Grunde eine einzige Lüge mit dem Zweck, den Beteiligten Zeit und Peinlichkeit zu ersparen. Wenn Sie diese Arbeit übernehmen, sollte Ihnen Ihr Gegenüber im Grunde dankbar sein!
4. Der heissersehnte Abschied
Wenn alle Beteiligten sich im Grunde nichts sehnlicher wünschen als sich voneinander zu verschieden, reicht eigentlich hierfür der Austausch einer kurzen Formel, und das wars. Es ist im Grunde auch unerheblich, ob man Formeln austauscht, die ein Wiedersehen implizieren («Bis zum nächsten Mal!»), oder solche, die dies nicht tun («Leben Sie wohl!»). Nur sollten Sie in Ihrer Freude über den vollzogenen Abschied nicht so überschwänglich werden, in pseudo-ironischer Überheblichkeit die Floskeln künstlich zu übertreiben («Bis hoffentlich bald!»). Das ist schlechte Form.
5. Der asymmetrische Abschied
Dies nun ist zwar nicht die schlimmste, aber die gesellschaftlich heikelste Variante. Nämlich eine Kombination aus den oberen, wobei die beteiligten Parteien aber jeweils eine unterschiedliche Position einnehmen, also zum Beispiel eine Kombination aus heissersehnt und tränenreich: der eine ist erleichtert, der andere will ihn nicht gehen lassen. Betrüblicherweise ist die asymmetrische beinahe die häufigste Form des Abschieds; wir alle kennen das: Besuch, der zu lange bleibt; Beziehungen, aus denen eine Seite raus möchte; modernes Regietheater, das nicht enden will. Jedenfalls gilt: sobald auf einer Seite «tränenreich» steht, wirds schwierig: der peinlich berührte Abschied. Denn wie auch immer Sie das umschreiben wollen, de facto bedeutet es: eine Seite muss abwimmeln. Abwimmeln klingt fies. Dabei handelt es sich um die schonende Beendigung sozialer Interaktion unter minimalen Verlusten für alle Beteiligten. Dafür ist jede harmlose Lüge (fachsprachlich «white lie») zulässig, die dafür sorgt, dass beide Seiten anstandslos aus einer potenziell konfliktträchtigen Situation herauskommen. Das ist der Paradefall für geglücktes Abwimmeln. Zum Beispiel in jener Konstellation, die man geradezu als den gesellschaftlichen Standardnotfall (GSN) bezeichnen kann: Sie werden auf irgendeiner Buchvernissage oder Autobahnabschnittseröffnung von irgendeiner sterbenslangweiligen Bekanntschaft monopolisiert. Und während es Personengruppen gibt, die man quasi rein professionell abwimmeln kann, also etwa Kellner, Verkäufer, Handelsvertreterinnen oder Heilsarmisten, so handelt es sich in der GSN-Konstellation um Personen, die Sie zwar im Einzelfall kaum kennen mögen, denen Sie aber gesellschaftlich mehr oder weniger offiziell vorgestellt worden sind. Um Vertreter dieser Kategorie zu verabschieden, müssen Sie stärkere und zugleich trickreichere Geschütze auffahren. Die anspruchsvollste Lösung besteht darin, die lästige Begleitung mit einem Abschied abzuwimmeln, auf den die Klette unmöglich mit Anschluss reagieren kann, ohne merkwürdig zu wirken, zum Beispiel: «Und nun entschuldigen Sie mich. Ich muss mir im ersten Stock mal die Schlafzimmeraufteilung ansehen.» Der Nachteil an dieser Strategie ist allerdings, dass Sie dabei selbst ein wenig merkwürdig wirken. Falls Ihnen das was ausmacht. Ich hoffe nicht. Denn sonst müssen Sie zu Hause bleiben.
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Soweit unsere kleine Typologie des Trennens und Loslassens. Viel Glück und Freude bei der Anwendung. Und welches Fazit können wir aus alldem ziehen? Folgendes: Manchmal gehts beim Abschied auch um das Brechen von Regeln, den Blick auf das Neue, nebst dem Blick zurück. Denken Sie mal drüber nach. Bedenken Sie ausserdem: Wenn Ihr Gegenüber sämtliche Abschiedsübungen mit Haltung hinnimmt und verkraftet – denken Sie noch mal drüber nach! Vielleicht haben Sie hier den idealen Partner gefunden! Und nun entschuldigen Sie mich, ich muss wirklich gehen. Ich habe zu Hause zwei Topfpflanzen, die vollkommen abhängig von mir sind.
Bild oben: Graffito in der Nähe des Market Square im englischen Derby.
2 Kommentare zu «Trennen und Loslassen»
Ich habe acht Topfpflanzen, wovon eine künstlich. Letztere ist nicht von meiner Wenigkeit abhängig. 😀 😀
Man könnte sich ja auch trennen, ohne wirkliches loslassen und die Zeit macht den Rest.