Caligula aus Oggersheim

Obschon ich im Moment quasi bergeweise Bücher für den Literaturclub zu studieren habe, meine Damen und Herren, lese ich doch zusätzlich auch mit brennendem Eifer in «Vermächtnis: Die Kohl-Protokolle», diesem skandalösen Bestseller, der in unserem Nachbarland gerade Furore macht und die Verkaufslisten stürmt: Indiskretionen, Invektiven und Ausfälle des deutschen Bundeskanzlers a.D. Also: Helmut Kohl gegen den Rest der Welt, sozusagen. Und Deutschland stellt sich die Frage: Wem gehört Kohl? Wer darf über seine Worte verfügen?
Für mich wird Kohl, dem ich nie so viel abgewinnen konnte, dadurch irgendwie interessanter: Empfindlichkeit, Verblendung, Paranoia – das ist doch schillernder als die tranige «Birne» (so lautete, glaubt man dem Buch, offenbar bis anhin der im deutschen Volk am weitesten verbreitete Titel für Herrn Kohl). Das hier aber ist nicht Birne, das ist: Cäsarenwahn; jenes psychische Syndrom, das 1894 durch die Schrift «Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn» des späteren Friedensnobelpreisträgers Ludwig Quidde Eingang in die deutsche Sprache fand, um einen mentalen Komplex zu bezeichnen, der unter anderem Geltungssucht, Selbstüberhebung und Verfolgungswahn verbindet. Quidde konstatierte, dass manche Herrscher unter dem «Eindruck einer scheinbar unbegrenzten Macht» glaubten, nicht mehr an Recht und Gesetz gebunden zu sein. Caligula aus Oggersheim. Pardon: Ludwigshafen.
Die Stelle, wo Caligula-Slash-Kohl erklärt, Angela Merkel habe anfänglich noch nicht einmal richtig mit Messer und Gabel umgehen können – als habe man sie quasi als Wilde in der ostdeutschen Uckermark eingefangen und erst mühsam domestizieren müssen – ging bereits um die Welt. Und mich erinnerte das an diese Szene vor etlichen Jahren am Flughafen Zürich, als Herr Kohl aus irgendeinem Grunde mit einer kleinen Maschine in Zürich landete, weil er in der Schweiz irgendwas zu erledigen hatte, und vor dem Flugzeug erwartete ihn irgendein armer Lokalreporter vom Lokalfernsehen, der natürlich die Frage stellte: «Herr Kohl, wie gefällt Ihnen Zürich?»
Dies sind immer die Momente, in denen meine Heimatstadt mir leicht peinlich ist in ihrer Provinzialität; genauso, wie wenn auf dem sogenannten Zurich Film Festival die mühsam hergelockten Hollywood-Berühmtheiten in schwer akzentgefärbtem Englisch gefragt werden: «Do you like Zurich?» Weil die Frage immer impliziert, dass fragliche Berühmtheit, wie es sich für eine richtige Berühmtheit gehört, noch nie einen Fuss in die Kleinstadt an der Limmat gesetzt habe. (Was meistens auch der Fall ist; doch dies verschärft nur die Peinlichkeit.) Niemals würde irgendein Journalist beispielsweise beim gerade laufenden London Film Festival auf den Gedanken kommen, Brad Pitt oder Shia LaBeouf zu fragen: «Gefällt Ihnen London?»
Wie dem auch sei, Herr Kohl gab damals die beste Antwort auf diese provinzielle Frage. Er erwiderte nämlich: «Also, bisher sehe ich nur Sie!»
Famos, nicht wahr? Wie gesagt: Ich finde diese unverblümte (if you’ll pardon the pun) Seite an Herrn Kohl irgendwie anziehend. Und das aktuelle Buch, bei weitem kein «Vermächtnis», zeigt uns nur, was man auch vorher schon wissen und sehen konnte: die Ambivalenz einer Persönlichkeit. Kohl kann gelassen, liberal und grosszügig sein. Und kleinlich, borniert und beleidigt. Beide Extreme finden sich in überraschendem Ausmass.
Also frug ich Richie, den besten Ehemann von allen: «Kleines, soll ich nicht auch mal ein Buch veröffentlichen, wo ich ganz viele schlimme Kommentare über ganz viele Leute von mir gebe?»
«Hast du doch schon», erwiderte Richie, «sogar mehrere.»
Bild oben: Ein Vermächtnis ist es nun nicht gerade. Helmut Kohl bei der Präsentation seines Buches an der Frankfurter Buchmesse 2014. Foto: Keystone
19 Kommentare zu «Caligula aus Oggersheim»
Do you like Zurich? – I like Zurich so verily that I consequently shall go to ‚Heldenbar‘ (attention, this is gay!) tonight.
Not to night. But an other day.
😀
„Das Vermächtnis“ hat den Eindruck bestätigt, den Kohl bei mir in fast vierzig Jahren hinterlassen hat: nicht sonderlich intelligent und gescheit, skrupellos, machtgeil, undemokratisch, menschenverachtend, beleidigend, kritikunfähig, grenzenlos eitel. Ein ganz und gar überflüssiger Politiker, der nicht nur die Gnade der späten Geburt sondern auch die Gunst der Stunde auf penetrante Weise ausgesessen und später als sein Verdienst ausgegeben hat. Ein Deutscher, der sich sein Leben lang geweigert hat, Deutsch zu lernen. Ganz zu schweigen von anderen Sprachen.
Bei Ihrem Kommentar kommt mir doch gleich ein um paar Jahre jüngerer Schweizer Politiker in den Sinn, der wohl auch einen Hang zum Cäsarwahn hat
@ Tom Lips: „… der späten Geburt[,] sondern auch …“. – @ dominik: „… der wohl auch einen Hang zum Cäsarwahn hat[.]“ – Sie beide formulieren zugegebenermassen zwar sehr kunstvoll, aber Zeichensetzung ist auch eine Kunst. Nichts für ungut! 😀
Ich glaube, dass Sie Kohl mit Ihren Worten gut einordnen und kommentieren. Das mit den Sprüchen über Weggefährten ist irgendwie eine positive Seite an ihm. So deftige Sprüche hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Es werden ja immer die selben fünf oder sechs zitiert. Wenn das alles ist, dünkt mich das ziemlich harmlos. Die Betroffenen werden das auch richtig einordnen können. Wer lästert nicht über Abwesende, sogar über solche, die man eigentlich mag?!
Zitat aus dem Artikel: „Und mich erinnerte das an diese Szene vor etlichen Jahren am Flughafen Zürich, als Herr Kohl aus irgendeinem Grunde mit einer kleinen Maschine in Zürich landete, weil er in der Schweiz irgendwas zu erledigen hatte, und vor dem Flugzeug erwartete ihn irgendein armer Lokalreporter vom Lokalfernsehen, der natürlich die Frage stellte: «Herr Kohl, wie gefällt Ihnen Zürich?»“
Szene kommt von altgriechisch skaenae. 😉
Sie finden die Sprüche über Weggefährten „positiv“??? Das ist ja schliesslich auch weit verbreitete Umgangsform hier in der CH – wenn man so in unsere Foren schaut. In D (ich lebe in Berlin) ist das übrigens ganz anders; hier geht man zivilisiert miteinander um, und wertet derartige Sprüche schlicht als Ungeheuerlichkeit. Sie können davon ausgehen, sollte es vor diesem Buch noch einen einzigen Kohl-Fan in D gegeben haben, so ist er nun abtrünnig geworden.
Margaret Thatcher ist Kohl seinerzeit öfters an den Karren gefahren, weil sie ihm nicht traute. Als Kohl 1999 an der Beisetzung von Raissa Gorbatschowa teilnahm, vermochte Frau Thatcher einen Seufzer nicht unterdrücken: “ Oh Gott, kommt er etwa auch an mein Begräbnis? Ich glaube, das hielte ich nicht aus.“
Der ist wirklich gut, auch noch zu später Nachtstunde. Das ist „die Thatcherie“ (wie mein inzwischen verstorbener Vatersvater zu sagen pflegte) live! The Lady Rest In Peace. Earnestly.
Kohl zu Reagan: „you can say you to me“ … Kult !