Miss Schweiz und echte Schönheit

Also, meine Damen und Herren, ich liege so auf dem Sofa und schaue «The Real Housewives of Beverly Hills», so als Burnout-Prophylaxe. Ich betrachte die Real Housewives, die allesamt aussehen, als wären sie gerade von irgendeinem Fliessband gefallen – und dabei erinnere ich mich an dieses Schaufenster, das Schaufenster einer Apotheke, was ich kürzlich am Zürcher Kreuzplatz für Sie fotografiert habe. Sie sehen es oben. Mir war nicht ganz klar, ob obige Botschaft («Echte Schönheit braucht kein Photoshop») den Betrachter resp. vor allem die Betrachterin nun von Attraktivitätsnormen entlasten soll oder diese Normen noch verschärft. Beziehungsweise inwiefern die Attribuierung «echt» (also: real; as in: real housewives, ironically) überhaupt eine legitime Zuschreibung für die Qualifikation von Schönheit darstellt. Denn «echt» fungiert hier als moralische Kategorie: Auf natürliche Weise schön zu sein, ist ein sorgsam gepflegtes Ideal. Der bearbeitete, ausgestellte Körper hingegen wird zum Monument eines verwerflichen Schönheitswahns. Das ist irre und paradox, nicht zuletzt weil Schönheit – wie schon Kierkegaard ahnte – eine Form der Suspension des Moralischen verkörpert.
Schönheit erzeugt Schamhaftigkeit. Hat Thomas Mann treffend festgestellt. Wie Sie längst wissen, weil ich das hier andauernd zitiere. Das wirklich Schöne hält uns auch fern. Und, auch das haben wir hier bereits konstatiert: Grazie verträgt sich nicht mit Intentionalität. Das ist der wundervolle Gedanke aus Heinrich von Kleist Essay «Über das Marionettentheater»: Tatsächliche Anmut ist nur demjenigen vorbehalten, der sich seiner Wirkung selbst nicht bewusst ist. Denn kaum etwas macht uns so unattraktiv wie der verbissene Wunsch, zu gefallen. Dies gilt wohl niemals mehr als heute, da der spätmoderne Mensch Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst begreift und die Freiheit seiner körperlichen Natur gerade darinnen sieht, sich selbst zu gestalten.
Wenn Sie diese materialistische Auffassung von Selbstperfektionierung mit dem gleichfalls sehr spätmodernen Konzept von «Celebrity» als «Selbstzurschaustellung» verrühren und noch einen kräftigen Schuss Rummelplatz und ein wenig Mittlere Mittelklasse hinzugeben, liefert das: «Miss Schweiz». Heute wieder zu besichtigen. Das Absinken dieser Veranstaltung ins Nischenprivatfernsehen mag als Indiz dafür gelten, dass die These von der sogenannten Feminisierung der spätmoderne Kultur (worunter die allgegenwärtige Thematisierung von Schönheit und Körperlichkeit verstanden wird) zumindest diskutabel ist. Dazu kommt die kaum aushaltbare Ironie des Umstandes, dass gegenwärtig, wo an verschiedenen Stellen der Welt jählings wieder das Mittelalter auf dem Vormarsch scheint, so Veranstaltungen wie die «Miss Schweiz» neben dem Protochauvinismus der 50er-Jahre unwillkürlich eine emanzipatorische Aura umweht. Und im Gegensatz zu den 50er-Jahren hört man heutzutage die Kandidatinnen bei derlei Veranstaltungen auch sprechen. Ja, sie werden etwa zu ihren bevorzugten Freizeitaktivitäten befragt oder zu ihrer Lieblingsfarbe, damit die Zuhörer sich ein Bild darüber machen können, ob die Bewerber charmant und schlagfertig seien. Nicht gestellt werden Fragen wie: Was ist Demokratie? oder: Liegt das Matterhorn nun in Italien oder nicht? oder wenigstens: Wie schreibt man «parallel»? Egal!
Das Verdienst der Siegerin besteht in aller Regel darin, grösser als einsfünfundsiebzig und noch im Besitze sämtlicher Vorderzähne zu sein. Derartig berühmt geworden, kann sie ihrer offiziell deklarierten Aufgabe nachkommen, bei Einweihungen von Autohäusern die Bänder durchzuschneiden und ihre philosophische Seite auf Telezüri mit der von Patricia Boser zu messen. Und ganz allgemein das mutmasslich Normschöne der Mittleren Mittelklasse gegenüber der übrigbleibenden Mehrheit zu repräsentieren. Und auf die moralischen Anschauungen der werktätigen Bevölkerung die erzieherischsten Einflüsse zu üben. Um dann später das Nummernrätsel auf Star TV zu moderieren oder, mit etwas Glück, sich mit Conchita Wurst ein Igluzelt im Dschungelcamp zu teilen. Tja, Anatomie ist Schicksal, wie schon Freud wusste.
Soweit für heute zur Genese, Dynamik und Medialität kultureller Figurationen. Und falls es Ihnen dann doch irgendwie irgendwann ein wenig peinlich sein sollte, liebe Kandidatinnen, kommen hier als Zusatzbonus noch die besten fünf Entschuldigungen für die Teilnahme an der Miss-Schweiz-Wahl:
«Ich bin von meiner Mutter angemeldet worden.»
«Das dient nur der Vorbereitung für meine Teilnahme bei ‹Die Grössten Schweizer Talente›.»
«Ich möchte Prinz Emanuele kennenlernen.»
«Jeder siebte Europäer hat keinen Zugang zu Trinkwasser und ist nicht an eine Kanalisation angeschlossen. Das erschüttert mich total, und dagegen will ich was tun.»
«Demokratie? Was ist das?»
8 Kommentare zu «Miss Schweiz und echte Schönheit»
Also, um die wahren Werte muss man sich höchstpersönlich selbst kümmern, möglicherweise im stillen Kämmerlein. Rückzug, Rückbesinnung und dann geht es schon, wenn Sie Glück haben und wirklich wollen. Anders wird’s nix.