Die Vergottung des Selbst

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Das hier ist das 21. Jahrhundert, meine Damen und Herren. Wir leben in einer polyvalenten, hochfragmentierten Multiminoritätengesellschaft, die nicht mehr viele universell bindende Normen kennt; aber einer der letzten Leitwerte in dieser irreduziblen Vielfalt der uns allenthalben umgebenden Kontingenzkultur ist: Authentizität. Das sagt jedenfalls der bekannte Medienwissenschaftler Norbert Bolz, dessen neuestes Buch «Das richtige Leben» kürzlich erschienen ist. Authentizität, also Echtheit und Aufrichtigkeit der Person, wäre demnach ein Wert, auf den sich offenbar quasi alle einigen können; neben Gesundheit und, auch immer wieder gern genommen: Nachhaltigkeit.

All diese Werte lassen sich kritisieren; Bolz selbst hält wenig von Nachhaltigkeit, und zur Gesundheit kann man im Buch «Müdigkeitsgesellschaft» von Byung-Chul Han, Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin, das alte Nietzsche-Argument nachlesen, dass der Mensch die Gesundheit vergöttere, sobald ihm der Bezug zum Transzendenten abhandenkommt. «Schon Nietzsche hat gesagt, dass nach dem Tod Gottes die Gesundheit sich zu einer Göttin erhebe», schreibt Han, «wenn es einen Sinnhorizont gäbe, der über das nackte Leben hinausginge, würde sich die Gesundheit nicht dermassen verabsolutieren können.» Im Horizont solch diesseitiger Erlösungssehnsüchte des postindustriellen Menschen wird auch die Natur immer stärker als quasireligiöses Medium wahrgenommen, in das ein Szenario der Wünsche und Ängste eingezeichnet wird. Entsprechend wichtig wird dann «Nachhaltigkeit»: Die grosse Emphase gilt der Rettung des Planeten. Aber: wofür eigentlich?

Nicht eingelöste und nicht einzulösende Erlösungssehnsüchte: Der Philosoph Georg Lukacs hat bereits 1963 von der «transzendentalen Obdachlosigkeit» gesprochen. Dieselbe ketzerische Frage – «Wofür?» – könnte man ja auch im Zusammenhang mit einem scheinbar so selbstverständlich geltenden Wert wie der Autonomie stellen: wofür? Autonomie, also: Selbstständigkeit, Willensfreiheit, Eigenbestimmung, Unabhängigkeit klingt ja zunächst mal dufte. Autonomie ist Aufklärung, Selbstermächtigung, Katharsis, Ausgang aus selbst verschuldeter Unmündigkeit, wie Kant sagen würde, und selten wird der Autonomiebegriff ohne Rückgriff auf den grossen preussischen Aufklärer Kant diskutiert, auch in seiner Ambivalenz.

Der kantische Autonomiebegriff steht in Zusammenhang mit Kants sogenannter Zweiweltenlehre, also der Gegenüberstellung von Noumenon und Phaenomenon bzw. intelligibler und empirischer Welt: Im intelligiblen Charakter des Menschen als Vernunftwesen zeigt sich die Selbstevidenz der Freiheit. Das heisst: Als Kultur- und also Verstandeswesen kann der Mensch sich von Trieben und Leidenschaften der empirischen Welt freimachen und selbstbestimmt handeln, nach Kant mithin vernünftig. Das richtige Leben erfordert deshalb, das Dilemma des gedoppelten Menschen bewusst zu ertragen. Gerade in diesem Dilemma liege die Freiheit, sagt Norbert Bolz.

Selbstdesign als spätmoderner Seelenersatz

Man kann die Kulturbedeutsamkeit der Autonomie in der spätmodernen Leistungsgesellschaft kritisieren, und zahlreiche mehr oder weniger geistreiche Menschen tun ebendas. Bolz spricht von der Ich-Versunkenheit unserer Zeit, einem Kollektivkult der Egophanie. Dabei gebraucht er den Begriff der Egophanie analog zu dem der Theophanie («Gotteserscheinung»): Der Ort der Befreiung und des Heils wird das «eigene Selbst», die Selbstoffenbarung des Ich. Im Ich-Kult, im Self-Design verwandelt sich der Mensch in ein Produkt der postindustriellen Massenkultur. Er umstellt seine Existenz mit Hilfskonstruktionen aus den Welten des Konsums, der medialen digitalen Zerstreuungen, die allesamt dem Götzendienst am Ich dienen: die Deifizierung des Selbst als ultimatives Säkularisat von Gottesarbeit. Von Transzendenz scheint nichts übrig geblieben als der eigene Ehrgeiz, sein Sosein zu überschreiten: Selbstdesign als spätmoderner Seelenersatz.

Neben der gerade aufgezeigten konzeptionellen gibt es aber gerade in der digitalen Gesellschaft auch eine ganz praktische Ambivalenz mit Blick auf individuelle Autonomie: Einerseits geht es um Darstellung vermeintlicher Individualität, andererseits geht es immer um die Anerkennung durch die anderen – vorzüglich über soziale Netzwerke wie Facebook. Es geht hier um Quantitäten, nicht um die Qualität von Bindungen; um die schiere Anzahl abstrakter virtueller Beziehungen. Der Mensch scheint irreversibel abhängig von den digitalen Selbstverlängerungen und Hilfsorganen seiner Techniken und Medien, seiner medialen Verortung und Selbstdarstellung. Die Wirklichkeit bekommt damit einen doppelten Boden, und unsere Psyche wird durch immer neue Spiegelungseffekte verwirrt: Während der Narziss sich digital unendlich reflektieren kann, wird die virtuelle Crowd gesichtslos; ein narzisstisches Instrument der Selbstvergewisserung. (Das ist kein Widerspruch, denn Narzissten sind immer von anderen abhängig, das unterscheidet sie von Egomanen.) Am Ende wird die Unterscheidung zwischen real und virtuell, zwischen Schein und Wirklichkeit, sinnlos, wir leben in einer digital konstruierten Meta-Realität.

Empathieverlust und Indiskretion

Mit harten Auswirkungen offline, allerdings, bzw. IRL (= In Real Life). Es gibt warnende Stimmen, die im Zusammenhang mit der Zunahme indiskreter Technologien einen sozialen Empathieverlust feststellen. «Indiskrete Technologien» heisst: Jeder hat ein Smartphone, jeder kann den anderen abhören, aufnehmen, filmen. Und Empathieverlust heisst: Wenn in London oder Hongkong oder Delhi oder sonst wo jemand auf der Strasse angegriffen wird, stehen die Menschen nicht nur da und gaffen (das haben sie schon immer getan), sondern jetzt holen sie ihr Telefon raus und drücken auf «Record». Um das Ganze dann anschliessend über soziale Netzwerke zu verbreiten. Neben dem Verlust von Menschlichkeit und Mitgefühl wird hier die Selbstreferenzialität der indiskreten Technologien deutlich: Es geht immer um den, der auf «Record» drückt. Es geht um mehr Twitter-Follower oder Facebook-Likes. Es geht darum, dabei gewesen zu sein. Wenngleich nicht involviert.

Die Evidenz für landläufig im breiten Querschnitt sinkende soziale Empathielevel ist allerdings nicht unumstritten. Weniger strittig ist das Phänomen, dass die Leute mehr und mehr Zeit online verbringen und zum Beispiel weniger mit Büchern. Also mit Literatur. Literatur ist aber wichtig. Eine Studie von Psychologen der New York School of Social Research zeigte unlängst, dass die Lektüre von Belletristik den Menschen befähigt, sich in der sozialen Interaktion kompetenter zu verhalten, weil sein Einfühlungsvermögen und seine Vorstellungskraft geschult werden. In diesem Sinne liesse sich argumentieren, dass die Auseinandersetzung mit literarischer Fiktion nicht nur soziale Erfahrung simuliert, sondern ebendiese Erfahrung unmittelbar darstellt.

Wir haben es also einerseits mit einem nahezu manischen Individualismus zu tun, mit einer hypertrophen Vorstellung des Selbst, in der sich ein autonomistischer Identitätsbegriff und individualistischer Atomismus verbinden. Und andererseits: mit Empathieverlust, Facebook-Denken und Crowd-Fixierung. Der überzogene Autonomiebegriff zeugt von der narzisstischen Unfähigkeit, das eigene Selbstbild zu objektivieren: tausend Spiegelungen, aber keine Objektivität. Die Folge sind Beziehungslosigkeit und Isolation und damit eigentlich Identitätslosigkeit – kein Wunder, dass das spätmoderne Subjekt von der Glückssuche erschöpft ist. Es geht bei der Frage nach der Kulturbedeutsamkeit von Autonomie und Individualität immerhin um die Konstanten des Menschseins: Identität, Intimität und Imagination. Natürlich darf das nicht darauf hinauslaufen, eine Gesellschaft des Enhancement zu kreieren, wo dem hoch motivierten Selbstausbeuter in der Unendlichkeit der Ansprüche an sich schliesslich alles der Selbstverwirklichung und Persönlichkeitsentfaltung dienen soll: Arbeit, Konsum, Freizeit, Körper, Freunde, Partner. Aber es kann auch nicht mit der überschwappenden Wehleidigkeit einer Burn-out-Gesellschaft enden, die von verinnerlichten Zwängen der Freiheitsgesellschaft redet und damit auf die Freiheit selbst zielt.

Das Ideal der Selbsterziehung

Was also ist zu tun? Nun, es schadet gar nichts, wenn wir uns zur Lösung noch einmal auf Kant besinnen: Kant nämlich ging davon aus, dass Selbstbestimmung nicht zuletzt Selbsterziehung bedeute – was ihm nicht wenige Kritiker bis heute vorwerfen, weil er mit diesem Autonomie-Ideal angeblich eine Generalmobilmachung der Leistungsethik in Gang gesetzt haben soll, die heutige Arbeitsreligion. Aber das verfehlt den Punkt. Es geht vielmehr um den alten aufklärerischen Gedanken der Perfektibilität, der Mensch sei entwicklungs-, bildungs- und vervollkommnungsfähig. Rousseau sah in Perfektibilität und Wahlfreiheit die einzigen Unterschiede zwischen Mensch und Tier. Und hier nun kommen wir zurück auf Norbert Bolz. Der sagt, das Wichtige im Leben ist eben das, was nicht für alle gilt: die Eigenart, die Ausnahme. Das macht Individualismus aus, meine Damen und Herren. Es geht um Selbsterziehung, und es geht um Anstand. Das lässt sich auch anders ausdrücken. Es gibt, ganz allgemein, zwei Sorten von Menschen: die einen, die zur Selbstironie fähig sind. Und den Rest, dem Nietzsche, dem wir viele amüsante Unwerturteile verdanken, einen «mühsameren Stoffwechsel» bescheinigte. Das Ziel ist also nicht absolute Selbstbestimmung. Das wäre illusorisch. Das Ziel ist vielmehr, an seinen Talenten zu arbeiten und seine Natur in Ruhe zu lassen und die gelegentliche Fremdbestimmung, die man früher «Schicksal» nannte, mit ironischer Gelassenheit zuzulassen, anstatt eine virtuelle Selbstbestimmung fortwährend zu behaupten. Nur dann lebt man richtig. Ansonsten gilt nach Charles Bukowski: Die meisten Menschen verstehen überhaupt nicht zu leben. Sie nutzen sich nur ab.

Bild oben: Tausend Spiegelungen, aber keine Objektivität – das führt zu Beziehungslosigkeit und Isolation: Die Schauspielerin Bella Thorne schiesst ein Selfie mit ihren Fans. (Getty Images)

23 Kommentare zu «Die Vergottung des Selbst»

  • Viktoria sagt:

    Max Frisch hat schon erkannt: „ Jedermann erfindet sich früher oder später
    eine Geschichte, die er für sein Leben hält. „

  • Jacob Tolmeyn sagt:

    Stichwort Bellletristik. Jacob Tolmeyn ist die Hauptfigur in Christoph Poschenrieder, Das Sandkorn, Zürich 2014. Die Geschichte spielt zu Beginn des Ersten Weltkriegs unter dem Versager Wilhelm II. in Berlin und Süditalien, also vor einhundert Jahren. Stellenweise sehr berührend, interessanter Plot, empfehlenswert auch für jene, die der Homophilie, den Anfängen der Farbfotografie und Friedrich II. zuneigen. Der Wechsel erfolgt ab Seite 240 — soviel sei verraten. Und auf Seite 44 der staunenswerte Vergleich der Tradition mit der „Stillen Post über die Jahrhunderte“. Bis öbermorn!

  • Thomas Binder sagt:

    (Zu) viele können ihre „Freiheit“ nicht ertragen!

    Wir glauben nicht (mehr) an „Gott“. Wir glauben nur noch an uns selber und sind damit scheinbar selber „Gott“!

    Dabei gäbe es durchaus gute Alternativen zu „organisierter Religion“ und dieser unglaublich primitiven Beliebigkeit, beispielsweise diese:

    Den säkularen aufgeklärten Humanismus mit einer Ethik, welche weit differenzierter ist als das unsäglich einfache religiös erfundene Schema von „Gut und Böse“ und welche die einzige mir bekannte Basis für ein friedliches Zusammenleben auf und mit diesem Planeten darstellt.

  • kenneth angst sagt:

    hervorragend. erinnert mich an ein buch des frz. Soziologen Alain ehrenberg: „das erschöpfte selbst“. und an die polit-kulturelle Kampfansage des radikalen neokonservatismus als gesellschaftliche Protestbewegung gegen die spätmoderne – und gegen die uns allen abverlangte kontingenztoleranz

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