Amtsträger mit heruntergelassenen Hosen

Es gibt keine Wahrheit, es gibt nur Geschichten, die man so oder anders erzählen kann. Nach der Nacktselfie-Affäre aus dem Bundeshaus wurde vergangene Woche hier die Frage aufgeworfen, wie die Öffentlichkeit auf einen Porno-Sekretär reagieren würde, der während der Arbeitszeit seinen Penis fotografiert und die Bilder veröffentlicht. Zwar lassen sich Selfiegate und Gerigate nur bedingt vergleichen – im einen Fall handelt es sich um eine einfache Bundeshaus-Sekretärin mit einer Zweitkarriere als Amateur-Porno-Darstellerin. Im anderen um einen Stadtammann, der seiner Geliebten Bilder seines Geschlechtsorgans direkt aus der Amtsstube schickt. Eine Frage in dieser Geschichte lässt sich immerhin beantworten: Die Öffentlichkeit reagiert auf nackte Penisse in amtlichen Büros nicht gnädiger als auf nackte Brüste.
Interessant an Gerigate ist aber weniger das, was bereits bekannt ist. Anzunehmen ist nämlich, dass nicht bloss die Libido eines älteren Herren diese Affäre auslöste. Relevant ist, was wir noch nicht sehen, die Hintergründe und Motive aller Akteure – auch jener, die die Geschichte veröffentlicht haben. Interessant ist The Big Picture.
Im Artikel der Zeitung «Sonntag» wird in erster Linie problematisiert, dass «der Stadtammann – Jahreslohn: 260’000 Franken – an seinem Arbeitsort und teilweise während der Arbeitszeit Sex-Chats geführt» hat. Doch ist das wirklich die Geschichte? Rechtfertigt der Umstand, dass die Fotos teilweise am Arbeitsplatz entstanden sind, ihre Veröffentlichung? Wohl kaum, denn das Skandalon liegt nicht bei den Nacktbildern oder der schwülstigen Poesie, mit der Geri Müller seine Geliebte bedacht hat. Wirklich relevant und für die Öffentlichkeit von Belang ist der Polizeieinsatz gegen die Frau, ihre Verhaftung in Baden und die Hausdurchsuchung in Bern. Und just was diese Angelegenheit betrifft, gibt es bislang widersprüchliche Aussagen: Müller vermutete eine Suizidgefährdung der Frau, was die Polizei heute bestätigt hat, zudem habe die Frau mit Veröffentlichung der privaten Korrespondenz und der Bilder gedroht. Diese Hintergründe müssten geklärt sein, bevor man über Penisbilder schreibt.
Wenn eine Person in Amt und Würde sich so unwürdig verhält, ist sie fraglos nicht mehr tragbar. Doch wo beginnt und wo endet das Privatleben? Wenn wir die moralischen Massstäbe so hoch ansetzen, dass niemand sich in einem vermeintlich unbeobachteten Augenblick irgendwelchen Fantasien hingeben darf – wer würde überhaupt noch für Amt und Würde taugen? Natürlich kann man den Mann nur bedauern, dass er dumm genug war, sich mit seiner jungen Geliebten so auszutauschen – aber wer hat sich in seinem Leben noch nie eine Dummheit geleistet? Wer hat keine Leiche in seinem privaten Keller?
Hätte der «Sonntag» die relevante Frage ins Zentrum gestellt, nämlich den Polizeieinsatz, dann würde sich die Geschichte anders lesen. Dann müsste man den Widersprüchen in der Geschichte nachgehen, die Befehlskette klären. Dann müsste man die Frage nach Müllers Motiv stellen, und ob und wie er tatsächlich unter Druck gesetzt wurde, und nach dem Motiv der Frau, mit einer Veröffentlichung zu drohen. Und dann würde es sich vor allem verbieten, dass man wörtlich und ausgiebig aus den Chat-Protokollen zitiert, wie der «Sonntag» dies getan hat. Denn wer so zitiert wird, der hat mehr als seinen nackten Penis gezeigt, der steht wirklich mit heruntergelassenen Hosen da.
Bild oben: Würden Sie diesen Mann nackt sehen wollen? Eben. Das relevante an dieser Geschichte ist nicht seine Nacktheit, sondern was danach folgte. (Archivbild: Keystone)
92 Kommentare zu «Amtsträger mit heruntergelassenen Hosen»
Da haben Sie inzwischen ja wirklich geliefert, M. Binswanger. Merci!
Und ich muss gestehen, dass mir das Vorgehen von Sacha Wigdorovits um ein Vielfaches peinlicher und skandalöser erscheint, als die albernen Selfiespielchen von G.Müller (der Vorwurf des Amtsmissbrauchs scheint mir sowieso entkräftet; allerspätestens nachdem die „Mitspielerin“ G. Müllers ihre Suizidankündigungen bestätigt hat).
Gerade angesichts der perfidesten antisemitischen Klischees (Unterwanderung der Presse), die Sacha Wigdorovits mit einem derart hinterhältigen Vorgehen unterfüttert, ist dies der eigentliche Skandal!
Geld regiert auch die Grüne Welt!
Rücktritt? Wohl kaum, ein nicht wiedergewählter Amtsträger bekommt seine Rente nur, falls er nicht wieder gewählt wird, also nur wenn er zur Wahl angetreten ist und die Wahl verliert. Beim vorzeitigen freiwilligen Rücktritt gibt’s keine Rente vom Staat!
Von wegen „ich liebe meinen Job“, nein „ich liebe das Geld“, das Herrn Müller lebenslang ausbezahlt wird, wenn er die nächste Wahl verlieren sollte.
Ich höre den shitstorm unserer Journalisten, wenn dasselbe einem SVP oder FDP Amtsträger widerfahren sollte.
Spätestens seit bekannt ist, dass in dieserm Skandälchen ein gewisser Sacha Wigdorowiz die Fäden zog, sprich Regie führte , ist mir klar geworden, dass G.M. auf der Abschussliste jener Leute ist, denen kein Mittel zu billig und zu blöd ist, um einen hoch qualifizierten, kritisch denkenden Politiker aus dem sog. linken Lager zu Fall zu bringen. G.M. hat sicher Mist gebaut, aber wer weiss denn schon, wie es um die Moral der anderen feinen Herren in Machtpositionen bestellt ist. Zum Glück weiss man nicht alles, sonst könnte man niemanden mehr wählen.
Ich verstehe einfach nicht, dass es soviele Menschen gibt, die das Verhalten von G.Müller in Ordnung finden! Es kann doch nicht sein, dass man die Veröffentlichung seiner exhibitionistischen Neigung als
jüdische Verschwörung bagatellisiert, da tut man dem armen Mann zuviel der Ehre. Er soll einfach verschwinden und dann soll es das auch gewesen sein.
Darf man denn fragen, wen genau G.M. geschädigt hat und wie hoch der Schaden in Franken zu beziffern ist? Und welche Straftatbestände gemäss Strafgesetzbuch hat er erfüllt? Und meines Wissens hat G.M. die Bilder nicht selber veröffentlicht. Also woher nehmen Sie den Exhibitionismus? Er muss also verschwinden wegen nichts? Ist das Empfinden von Lust neuerdings ein Kapitalverbrechen? Hält jetzt das Mittelalter wieder Einzug?
Und noch mal Kompliment!
Grad hab ich den jüngsten Artikel zum Thema, über S.W. , von Ihnen gelesen.
Wow. Sauber, flüssig und unterhaltsam… Und das in diesem Minenfeld.
Toll. wie Sie dabei alle Klippen umschifft, aber die Dinge trotzdem beim Namen genannt haben.