Aggressiv verwahrlost?

Ich finde Goldie Hawn fabelhaft. Und deshalb, meine Damen und Herren, sah ich auch einen Moment lang aus wie die Figur auf Edvard Munchs bekanntem Bild «Der Schrei», als ich obiges Bild von ihr erblickte. In einer dieser zahllosen Berühmtheiten-ungeschminkt-Galerien, die man im Interweb überall zu sehen bekommt. Diese ist von «Us Weekly».
Und Goldie ist nicht allein. In letzter Zeit sahen wir zum Beispiel Fotos von Pamela Anderson, die in Jogginghosen einen Wagen mit mehreren Kisten hochprozentiger Spirituosen aus einem Supermarkt in Los Angeles rollt. Oder Sienna Miller, die sich mit Plastiksonnenbrille und Zigarette zwischen den Lippen in eine unförmige Kapuzenjacke vergräbt wie auf einem Hippie-Festival. Oder Cher, alterslos und so berühmt, dass sie keinen Nachnamen braucht (wie Jesus oder Moses), die in einem sackähnlichen Oberteil beim Laufen Fruchtgummis aus der Tüte isst. Oder Scarlett Johansson, die vermummt und gähnend auf einer Restaurantterrasse ein paar Stretchingübungen improvisiert. Ein ganz normaler Tag in Bel Air.
Es handelt sich hier um die gleichen Berühmtheiten, die von einer Heerschar persönlicher Assistenten, PR-Agenten, Diätberatern und überkandidelten Stylisten hermetisch imagekontrolliert werden – und die genau wissen, dass sie nicht mal eben zum Kiosk um die Ecke gehen können, ohne den Paparazzi ins Visier zu geraten. Was also steckt hinter diesen Bildern? Eine besonders ausgekochte PR-Strategie? Schliesslich scheint derart derangiert abgelichtete Prominenz unberühmten Menschen die Botschaft zu vermitteln: Ich bin wie ihr. Sowas hört man ja gerne. Doch Cher und Scarlett sind nicht wie wir. Und wenn man es ein bisschen genauer betrachtet, dann ist wohl die wahre Botschaft, wenn Britney Spears barfuss irgendein Tankstellenklo verlässt, auch weniger: «Ich bin wie ihr», als vielmehr: «Ihr könnt mich mal.»
Die Zurschaustellung der eigenen Gewöhnlichkeit hat ja bekanntlich etwas irre Befreiendes – wie jeder weiss, der schon mal ohne sportliche Absichten in eine Jogginghose geschlüpft ist. Bei den Spitzen des anglo-amerikanischen Showgeschäfts wird durch eine schlecht sitzende Jogginghose sofort die Aura der Perfektion angekratzt, an der Pam und Britney und alle anderen offiziell jeden Tag zu arbeiten haben. Und diese Kratzer scheinen den Betroffenen Genugtuung zu verschaffen. Möglicherweise können die Schönheiten Tinseltowns ihre eigene, permanent vermarktete Attraktivität selbst nicht mehr ertragen. Eine derartige Image-Emanzipation durch gepflegte Verwahrlosung ist ein bisschen aggressiv, aber wir, das Publikum, haben sie provoziert. Denn während wir früher gegenüber Prominenz noch so etwas wie Ehrfurcht empfunden haben, wollen wir sie heute eigentlich immer bloss anfassen – und deshalb kriegen wir nicht nur massenhaft synthetische 15-Minuten-Berühmtheiten im Casting-Fernsehen serviert, sondern auch noch Britney Spears mit offener Hose. Es ist ein bisschen wie beim Zauberlehrling. Bloss dass der Meister nicht zurückzukommen scheint.
Das Spiel ist ausser Kontrolle geraten, ein gefährliches Spiel mit Tele-Objektiven, Jogginghosen und Spirituosenkisten. Wir müssen mit allem rechnen: Paparazzi, die sich bisher auf das Durchwühlen von Celebrity-Abfall und allenfalls den einen oder anderen Charter-Helikopter-Angriff beschränkt haben, werden auf der Suche nach Fotogelegenheiten keine Skrupel mehr kennen. Und die Einwohner Bel Airs werden sich rächen an dieser unserer Unverfrorenheit, indem sie in Lockenwicklern und Tigertatzenhausschuhen aus ihren Millionen-Dollar-Anwesen ans Licht und vor die Objektive treten. In diesem Wettrüsten wird sich ein Gleichgewicht des Schreckens einstellen, das uns dann Bilder beschert, die Barbra Streisand probesitzend beim Klosettschüsselkauf zeigen oder Goldie Hawn beim Yoga am Pool, während Kurt Russell im Hintergrund splitternackt herumläuft. Halt, Moment mal, diese Bilder haben wir ja alle schon gesehen! Sie erinnern sich doch an Goldie Hawn im Badeanzug? Mit Plastikbadehaube, giftgrüner Maske im Gesicht und Zigarette zwischen den Lippen. Wir verehren sie trotzdem.
Übrigens hat Goldie heute Geburtstag. Zu Beginn ihrer Schauspielkarriere, im Fernsehen Ende der sechziger Jahre, hat man sie gelegentlich als alberne Blondine apostrophiert, und Goldie Hawn hat dann «albern» stets in «joyful» verbessert, zu deutsch: «freudvoll», ein Wort, das ihr Wesen trifft: Niemand scheint wie sie das Ewig-Heitere, Strahlende, Glamouröse zu verkörpern. Ein typisches Kaliforniengeschöpf, denkt man, aber Goldie stammt von der Ostküste, aus Maryland, und sie bietet jenseits von Dauerbräune und Goldhaar noch etwas ganz anderes, was essentiell zu einem freudvollen Wesen gehört: die Fähigkeit zur Ironie, zur Selbst-Parodie. Unübertroffen in der Rolle der mit Alkohol und Hyaluronsäure gefüllten Schauspielerin Elise Elliot in «The First Wives Club» (1996) neben Bette Midler und Diane Keaton, zwei anderen unzerstörbaren Phänomenen des Showgeschäfts. Eine solche Verfügung über das eigene Image ist ein wesentliches Ingredienz echter Starqualität – und zugleich das, was den Heerscharen von Instant-Berühmtheiten in unserer übermedialisierten Gesellschaft abgeht. Das kann kein Paparazzo ankratzen. Egal, wie gut sein Tele-Objektiv ist. Goldie Hawn realisiert ihre Überzeitlichkeit auf eine altmodische Art: Indem sie sich treu bleibt. Zigarette im Mund, Hand im Haar und dasselbe notorische Lachen wie 1969: hell, jung, hervorbrechend, die Lustigkeit von Dämonen. Happy Birthday!
14 Kommentare zu «Aggressiv verwahrlost?»
Die Verwahrlosung liegt nicht darin, dass sich Boulevardmedien auf Stars und Möchtegernkünstler stürzen, sondern dass heute solche Nachrichten selbst von Eliten und etablierten Medien ernst genommen und gelesen werden. Die Spassgesellschaft begibt sich auf ein infantiles Niveau, das Entertainment verherrlicht und zum Nonplusultra erklärt. Wer jedoch noch etwas von Kunst und Kultur hält, ignoriert die Gratispresse, die asozialen Medien und meidet Gesellschaft, in der die Kenntnis von Popkulturzitaten zum guten Ton gehört.
Schöööön. Oder schön verwahrlost? Vielleicht sind sie eben doch wie wir, die Stars. Weil immer wie aus dem Ei gepellt aussehen ganz schön anstrengend ist, auch da sind sie keine Übermenschen. Und sie müssen ja nicht jeden Tag wie aus dem Ei gepellt aussehen, um ihren Job zu behalten, offensichtlich. Die haben’s halt gut… Aber ich bin auch wie ein Star! Ich gehe leicht verwahrlost zum Einkaufen, trage manchmal Gummistiefel (!!!) zum Shopping und immer eine Sonnenbrille. 😎
*seufz* ihre gummistiefel-neurose bereitet mir langsam kopfschmerzen.
Heute lässt sich mancher Prom“ gehen!Was besagt uns das?Vielleicht ganz einfach:weshalb ist er/sie ein Promi?Was zeichnet ihn/sie aus?Heute werden sogenannte Promis allein durch ihr (allzu)häufiges Auftretten vor Kameras und Mikros zu Promis gemacht.Gemacht von uns, die wir uns mit Wohllust auf die Skandale/Skandälchen stürzen und noch das Gefühl haben es sei COOL und IN es denen gleich zu tun.Oft ist es schon zum fremdschämen wie sich A-B- und C-Promis sich benehmen und noch damit durchkommen und bejubelt werden.Kein Ausschnitt zu tief,kein Fudi zu schrumplig um nicht in eine Kamera zu halten