Die schönste Aussicht der Welt

Die Schweiz ist eines der kleinsten, ältesten und schönsten Länder der Welt, und sie hat heute Geburtstag! Jupieh! Und auch wenn es gerade etwas Unsicherheiten wegen des Schweizerpsalms gibt yadayadayada … Ich bin von patriotischen Gefühlen überwältigt, meine Damen und Herren, und bitte, neu ansetzen zu dürfen: Die Schweiz ist eines der kleinsten, ältesten und schönsten Länder der Welt, und ihre Metropole und, machen wir uns nichts vor, eigentliche Hauptstadt liegt hübsch und friedlich am nördlichen Ende eines nach ihr benannten Sees, wie ein Auge an einer riesigen Träne. Die Rede ist von Zürich, der Stadt der schönen Geschäfte. So sagte es einst ein Poststempel. Und so ist es! Zürich ist schön. Viele Klischeevorstellungen existieren nicht nur über die Schweiz, sondern auch über das grosse Dorf am See, die Zwinglistadt Zürich, mit der man zum Beispiel kühlen Geschäftssinn und puritanische Sittenstrenge assoziiert. Dabei ist Zürich bloss cool. Viel cooler und toleranter und weltläufiger als beispielsweise Wien oder Istanbul. Und manchmal … irgendwie … lassen Sie mich das mit diesem bekannten Zitat aus «Juno» ausdrücken: super beautiful but really mean, like Diana Ross. Oder, nein, halt, sagen wir lieber: schön, reich und nüchtern. Wie Diana Ross an einem guten Tag.
Des Weiteren beherbergt unsere niedliche Seekopfstadt die reichste Kakteensammlung in Europa, was vielen Feriengästen betrüblicherweise völlig egal ist. Fernerhin verfügt Zürich über das grösste Uhrenziffernblatt des Kontinents (am Turm der Kirche St. Peter), was viele Besucher leider nicht glauben wollen. Seis drum. Wir aber wollen heute, zum 1. August, mal was ganz Konventionelles unternehmen: Wir flanieren die Zürcher Bahnhofstrasse hinunter. Die Bahnhofstrasse ist ein klassischer alteuropäischer Boulevard, wenngleich ein schmaler, weil Zürich, wie die meisten Städte in der Schweiz, in einem Tal liegt. Wir beginnen unseren Spaziergang, der zu den klassischen alteuropäischen Spaziergängen gehört, aber nicht am palastähnlichen Hauptbahnhof, dem die Strasse den Namen verdankt, sondern quasi am oberen Ende, am Bürkliplatz, direkt am See, am Anleger, von dem aus die weisse Flotte der Zürichsee-Schifffahrtsgesellschaft in See sticht. Dort weht ein einsames Schweizer Kreuz (oder auch mal das blau-weisse Banner der Stadt Zürich), und der Ausblick bei klarem Wetter ist herrlich. In der Schweiz ist es ja praktisch überall möglich, von einer lauschigen Anhöhe zwischen zwei Kreditinstituten oder einer kühn gespannten Brücke aus mit einem einzigen Blick grossartige Landschaftsbilder zu überschauen, jene grandiosen Panoramen, welche die Eidgenossenschaft zum eigentlichen Stammland des Fremdenverkehrs werden liessen. Doch der Blick von Bürkliplatz und Quaibrücke über den stillen, fischreichen Zürichsee, funkelnd im fernen Glanz der Firne, auf die eisigen Dome der kristallgepanzerten Gletscher der Innerschweizer Alpen, quasi die Ewigkeit, die im getürmten Gestein und in den Runen des Eises sich ausdrückt – dieser Blick gehört zu den schönsten Aussichten der Welt.
Davon müssen wir uns nun losreissen und Richtung Bahnhof laufen. Das Wetter wird freundlich sein. Das Wetter ist in Zürich meistens freundlich, besonders im Sommer – es sei denn, man reagiert empfindlich auf Föhn. Am Anfang der Bahnhofstrasse liegt linker Hand ein Haute-Couture-Haus für Pelze und rechter Hand das im Imponierstil errichtete Gebäude der Schweizerischen Nationalbank – und damit wäre eigentlich schon wieder alles über diese Stadt gesagt, und wir könnten nach Hause gehen. Aber, nein, halt, dort drüben, im Nationalbank-Gebäude, findet sich das Geschäft des Schweizer Heimatwerks, wo man allerlei einheimisches Kunstgewerbe kaufen kann. Das Sortiment ist besser als früher, es gibt immer noch viel Schweizer-Kreuz-Kitsch und Heidikleider, Kuhglocken und Fonduegeschirr, aber auch Gläser und Tonfiguren und Golfbälle. Kurz hinter dem Heimatwerk folgt dann eine Art Heimat für andere Leute: Tiffany & Co.
Ein Hauch von Ostberlin
Wir machen einen kleinen Sprung zum Paradeplatz, dort liegt die Confiserie Sprüngli, genauer gesagt das Hauptgeschäft des Sprüngli-Schokoladenimperiums, mit einem Café im ersten Stock, der in einer Mischung aus Landhaus- und Zuckerbäckerstil ausgestaltet ist. Bei Sprüngli ist es auch im Sommer angenehm kühl, weil sonst die Schokolade schmilzt. Die Serviertöchter in Sprünglis erster Etage haben einen ganz eigenen Charme, der all denjenigen Besuchern bekannt vorkommen wird, die alt genug sind, um mal in Ostberlin gewesen zu sein. Einige dieser Serviertöchter sehen obendrein aus wie Töchter von Breschnew. Allerdings wird diese Sorte seltener. Und darf man überhaupt noch «Serviertochter» sagen, oder hat die politische Korrektheit diesen Titel seines verletzend subalternen Beigeschmacks wegen abgeschafft?
Am Nachmittag ist Sprüngli sehr belebt und bietet einen guten Querschnitt durchs Bahnhofstrassenpublikum: alte Frauen im Hahnentrittkostüm, übergewichtige Geschäftsleute, magere Blondinen mit Sonnenbrille, modisch frisierte Kunstgewerbeschüler und betont schlicht gekleidete Architekten, ein paar verirrte Skater. Und völlig normale Leute aus den Vororten (die nach Zürcher Auffassung bis nach Bern reichen).
Die hoffnungslos desaströse Parkplatzsituation in Zürich ist übrigens ein Grund dafür, dass jede Menge Geländewagen um die Bahnhofstrasse cruisen, die freilich nie mehr Gelände gesehen haben als die sogenannte Zürcher Goldküste. Die Bahnhofstrasse selbst ist schon seit Ewigkeiten autofrei, was es für die parkplatzsuchenden Geländewagen und die sie steuernden mageren Blondinen nicht gerade leichter macht. Die Armen.
Wenn wir Sprüngli verlassen, stehen wir bereits auf dem Paradeplatz und haben das erste Drittel der Bahnhofstrasse hinter uns. Die Fama sagt, dass der Paradeplatz unterhöhlt sei von Tresorräumen voller Gold. Das ist nicht sicher, sicher aber ist, dass dieser Platz von Banken beherrscht wird. Das Bankgeschäft ist in der Schweiz immer noch ein goldenes Gewerbe, und werktags sehen auf dem Zürcher Paradeplatz viele Leute aus, als gingen sie Geschäften nach, bei denen man sich nicht schmutzig macht, in unaufdringlichen Nadelstreifen oder dunkelblauen Deuxpièces von Donna Karan, das Mobiltelephon am Ohr. Der tief verwurzelte Sinn für Profit und Kommerz ist ein Erbteil der Schweizerpsyche und gehört zu jenen Antrieben, die dieses Land frei, stark und reich gemacht haben. Und vielleicht ein bisschen nervös. Das alles gehört hier zur Ortsdisziplin. In Los Angeles hat man eine Waffe oder eine Talkshow – in Zürich hat man ein Sports Utility Vehicle und einen Hedgefonds-Manager. Zur Not ist man mit ihm verheiratet.
Der helvetische Staat und das landläufige Temperament
Das landläufige Temperament ist von Völkerpsychologen oft beschrieben worden als ein praktisch veranlagter, nüchterner und, wie ich hinzufügen möchte, allemal recht hübscher Typ, dessen Streben sich gern auf das Greifbare richtet. Der helvetische Staat, in welchem die Volksherrschaft bekanntlich die schönste Ausprägung gefunden hat, schöpft seine Kraft aus diesem so gearteten Volk; das Volk ist immer am gemeinsamen Staatswerk. Alle sind, gewissermassen, die Hausmeister im gemeinsamen Schweizerhause. Manche übertreiben ein klein wenig, zum Beispiel jene anonyme Anwohnerin, die, obschon im Grunde mit keinerlei hoheitlicher Gewalt ausgestattet, uns immer handgeschriebene Verwarnungen unter den Scheibenwischer klatscht, wenn wir ihrer subjektiven Auffassung nach nicht ganz korrekt geparkt haben. Aber ansonsten sind die Leute hier ganz vernünftig, machen sich nett zurecht und kümmern sich um ihren eigenen Kram. Die Stille in Zürichs öffentlichen Verkehrsmitteln, deren Benutzung klassenlos ist, ist legendär. Öffentliches Drama würde man mit diesem Ort und seinem Schlag, dem Homo turicensis, so wenig assoziieren wie Hyperinflation, Fundamentalismus oder Monarchie. Dabei, das sollte hinzugefügt werden, gelten die Zürcher für den Rest ihrer Landsleute als schnell und schnippisch, ihr Mundwerk, die sogenannte Zürischnurre, ist berüchtigt, besonders in Basel.
Wir haben inzwischen den Paradeplatz überquert und sind auf der Höhe von Louis Vuitton, auf der anderen Seite liegt Bulgari, genau das Richtige für einen gemütlichen kleinen Bummel, falls man zufällig Lily Safra ist. Weiter vorne befindet sich das ehemalige Bally-Haus, welches vollständig aus Plastik zu sein scheint. Es hebt sich damit ab von der übrigen Bahnhofstrassen-Architektur, die vor allem den imponierenden klassizistischen Mischmasch-Baustil der vorletzten Jahrhundertwende widerspiegelt, erhalten durch die Gunst einer friedvollen Geschichte. Für alteuropäische Boulevard-Massstäbe allerdings sind sämtliche Gebäude um mindestens eine Etage zu kurz. Schräg gegenüber von Bally liegt das Kaufhaus Jelmoli, dessen eben neu gestaltete Lebensmittelabteilung mit dem Delicatessa-Keller des nur knapp 100 Meter entfernten Kaufhauses Globus wetteifert. Dort kann man am Samstagnachmittag Elvira Netzer beim Kauf von Tütensuppen beobachten. Aber nicht jetzt. Jetzt wird gerade renoviert.
Ein Schutz-und-Trutz-Bündnis gegen die Arglist der Zeit
Das Bally-Haus seinerseits beherbergt inzwischen die Filiale einer spanischen High-Street-Billigtextilkette und fungiert damit heute quasi als Tor zum letzten Drittel der Bahnhofstrasse, und das ist jener Teil, dessen «Verslumung» die hiesige Geschäftswelt gelegentlich moniert. Tatsächlich finden sich hier Billigwaren- und Kettenläden, und das Warenhaus Manor kämpft um sein Bleiberecht. Das Café und das Restaurant des Hotels St. Gotthard, wo man früher weitläufig auf dem Trottoir sitzen konnte, sind auf einen traurigen Rest zusammengeschrumpft, womit Alfred Escher gewiss nicht glücklich wäre. Der ehemalige Präsident des Zürcher Regierungsrates, Förderer der Gotthardbahn und der Eidgenössischen Technischen Hochschule, dessen Denkmal seit über einem Jahrhundert auf einem grossen Brunnen mit allegorischen Figuren direkt vor dem Hauptbahnhof thront, gab den Anstoss zum Bau der Bahnhofstrasse, die hier endet. Alfred Eschers bronzenes Konterfei hält mit Pioniergeist und Heroismus den Blick in die Ferne gerichtet, auf die Stadt Zürich als Ganzes und über sie hinaus ins Land. Über der Bahnhofstrasse aber hängt ein riesiges Schweizer Kreuz in seinem herrlich neutralen Format und erinnert uns daran, dass die Bürgerschaft hierlands seit jeher auch eine Wehrgemeinschaft bildet, ein Schutz-und-Trutz-Bündnis gegen die Gebirgsnatur und die Arglist der Zeit, vereint im Kampf für hohe Güter wie menschliches Glück, Selbstbestimmung und eigenen Herd. Deshalb sollten wir auch alle aus staatsbürgerlicher Pflicht gegen die reaktionäre und diskriminierende Ehedefinition stimmen, die ein religiöser Verein, der sich irreführenderweise hinter dem Etikett einer «Christlichdemokratischen Volkspartei» (kurz: CVP) versteckt, über die Mogelpackung einer sogenannten Familieninitiative in unsere schöne Bundesverfassung schmuggeln will. Aufgepasst, Schweizervolk!
Der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard hat die Schweiz mal ein «Weltbordell» genannt, aber Bernhard war ein geborener Unglückswurm, und Zürich ist nun entschieden mehr was für Glückskinder wie Thomas Mann, der hier seinen Lebensabend verbrachte. Dessen Tochter Erika wunderte sich nach dem Krieg, wie seltsam man sich fühlt, zu Besuch in der Schweiz, wenn man «am Bettelstab die reichbestellte Bahnhofstrasse runterwankt». Erika Mann, sonst selten sentimental, nannte Zürich süss-ironisch «Züritown», und Züritown ist ein famoses Fleckchen, in der Tat. Da geht niemand wieder weg. Es sei denn, er macht Ferien auf Mustique. Oder er wird ausgewiesen.
Bild oben: Traumwetter bei der Skulptur «Ganymed» des Bildhauers Hermann Hubacher am Bürkliplatz. (Walter Bieri/Keystone)
16 Kommentare zu «Die schönste Aussicht der Welt»
Bahnhofstrasse trifft es gut. Jedenfalls sieht man dort immer viele Wartende. Zum Glück gibt es auch die Seitengassen, wo man viel beschaulicher warten kann, und manchmal Unerwartetes entdeckt.
Heute vormittag war ich zufälligerweise in Zürich, um den Starbucks zu suchen, von dem ich einmal gelesen hatte, er befinde sich an der Bahnhofstrasse. Vom Hauptbahnhof aus ging in die ganze Strasse bis zum See: Nichts. Wieder zurück. Bei Urania traf ich auf einen Bekannten, der mir sagte, es gebe einen Starbucks ganz oben an der Bahnhofstrasse. Also weiter. Tatsächlich entdeckte ich das Schild nahe am Ende der Strasse, aber an der Tür war ein Zettel: Stopp! Dann um die Ecke: Ach, hier ist Starbucks – am Bahnhofplatz; nicht an der Bahnhofstrasse. Zum Thema: Ganymed hat einen knackigen Hintern.