Die Männlichkeits-Neurose

Pünktlich zur grossen Testosteron-Party namens Fussball-WM wird ein neuer Begriff herumgereicht, der das Ideal zeitgenössischer Männlichkeit auf den Punkt bringen soll: «spornosexuell». Zu verdanken haben wir den Ausdruck dem britischen Journalisten Mark Simpson. Schon vor zwanzig Jahren beobachtete er, dass Körperkult sich auch bei Männern zum zentralen Bestandteil des Selbstbildes zu entwickeln begann und prägte dafür den Begriff «metrosexuell». Darunter verstand Simpson gut verdienende urbane Single-Männer mit ausgeprägtem Markenbewusstsein und einer ungeschützten Flanke namens Eitelkeit. Über diese, so prophezeite er, würde die Kosmetikindustrie in den nächsten Jahren einfallen und ein neues Schönheitsideal etablieren.
Er sollte recht behalten: Der gestählte, definierte und vor allem fettbefreite männliche Körper wurde in den vergangenen Jahren zunehmend idealisiert und zum Ideal auch für Normalsterbliche erhoben.
Zwanzig Jahre später ist der Begriff metrosexuell zwar beinahe vergessen. Das Phänomen aber ist allgegenwärtig – zumindest in den Städten. Wer es nicht glaubt, muss sich nur mal nach Feierabend in einem Fitnesstudio umsehen, wo mittlerweile mehr Männer als Frauen an den Geräten ihren Schweiss vergiessen. Danach schütten sie sich nicht etwa ein Bier, sondern lieber einen Proteindrink hinter die Binde, um danach im Solarium an ihrem Teint zu arbeiten oder sich im Tattoostudio ihres Vertrauens ein neues Erkennungszeichen stechen lassen.
Spornosexuelle nennt Simpson jene, die diesem Ideal nacheifern, beflügelt durch Selfie-Kultur und Porno-Ästhetik. Markenkleider und Kosmetikprodukte spielen für Spornosexuelle eine Nebenrolle, im Zentrum steht der perfekte «Body», der als Fundament des neuen männlichen Selbstbildes dient. Damit ist die galoppierende Eitelkeit auch vom Verdacht befreit, irgendwie weibisch oder schwul zu sein. Dem Mann geht es in seinem Mann-Sein um dieses Mann-Sein selber, könnte man in Anlehnung an Heidegger bemerken. Und viel anderes hat daneben nicht mehr Platz.
Was wir Frauen davon halten? Gegen einen perfekten männlichen Körper ist natürlich grundsätzlich nichts einzuwenden. Nur leider ist er meistens nicht der sichtbare Ausdruck reiner Männlichkeit, sondern reiner Neurose. Oder wie Kolumnistin Linda Solanki neulich zum Thema schrieb: «Es nervt, dass ihr dauernd über Muskelaufbau redet. (…) Es nervt, dass ihr zugunsten eines ‹perfekten› Bodys auf euer Sozial und Liebesleben verzichtet. Was nützt uns ein Freund mit dem Körper eines Unterwäschemodels, wenn wir diesen kaum zu sehen bekommen?»
Mit anderen Worten: Wer nicht geniessen kann, wird ungeniessbar. Und das kann niemand wollen.
Bild oben: Der britische Reality-Star Dan Osborne postet am liebsten solche Selfies auf Instagram. Foto: instagram.com/danosborneofficial
30 Kommentare zu «Die Männlichkeits-Neurose»
Einfach ein bisschen mehr selbst sein, das gilt für Frauen wie Männer. Natürlich ist ein schöner Mann hübsch zum Ansehen. Aber wenn man nicht eine Beziehung hat, kann es einem auch irgendwie egal sein. Nur vom Anschauen alleine wird man ja auch nicht glücklich. Ansonsten finde ich es toll, wie die Männer auch Wert aufs Äussere legen. Warum auch nicht? Gegessen wird eh nur zuhause, auch wenn man sich den Appetit überall holen kann.
„in einem Fitnesstudio umsehen, wo mittlerweile mehr Männer als Frauen an den Geräten ihren Schweiss vergiessen“
Seit es Fitnesscenter gibt werden diese mehr von Männer als von Frauen besucht, insbesodere im Gerätebereich.
Allem sozial streng erwünschten Gerede zum Trotz (das auch hier in den Kommentaren reichlich zu finden ist) bevorzugen die allermeisten Frauen im wahren Leben weiterhin langbeinige, schlanke Männer mit vollem Haar und – vor allem jenseits der 30 – mit Geld. Nanu, wo sind denn da nur die wahren inneren Werte?
Beidseitige sexuelle Attraktivität ist nicht alles, aber ohne sie ist halt alles nichts. Für die berüchtigten „intensiven Gespräche“ hat man später im Altersheim noch mehr als genug Zeit.