Müssen wir alle originell sein?

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Ich lese gerade mit Freude das geistreiche Buch «Das richtige Leben» von Norbert Bolz, meine Damen und Herren. Bolz ist Professor für Medienwissenschaften an der TU Berlin, und in seinem Buch ist unter anderem die Rede vom «Problem der Gleichheit, während wir alle nach Auszeichnung dürsten». Das stimmt: Einerseits wird die gesellschaftliche Exposition beargwöhnt, wenn nicht verpönt: «Der antiheroische Affekt der Moderne markiert nicht einfach den Abschied vom Helden, sondern eine Gefühlsambivalenz. … Das Heroische wird in die psychischen Naturschutzparks von Sport und Unterhaltung abgedrängt.» Und andererseits: gilt Originalität in der postindustriellen Gesellschaft als plakatierter Wert, ach, was sag ich, als total hysterisiertes Ideal: alles soll und alle sollen originell sein; das Dogma der Originalität wurde zu Fixpunkt und Leitmarke im Kulturbetrieb, der Warenwelt und auf dem Markt der Selbstperfektionierung.

Hier handelt es sich um die Wucherungen eines Begriffs von Besonderung und Entfaltung, der mit der Genievorstellung des Sturm und Drang seinen Anfang nahm, über den unironischen Individualitätskult der Romantik weiterlief und über Irrungen und Wirrungen der Mentalitätsgeschichte hinweg in der Phase des Technopostmaterialismus der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts eine geradezu monströse Ausweitung erlebte: «Originalität» führte zur Verwischung von Definitionsgrenzen und zur Koexistenz aller möglichen Qualitätsstandards. «Originell» wurde das, was man dazu erklärte. «Originell» hiess, genau wie «kreativ», irgendwie jenseits des Mainstreams zu sein, irgendwie ausgefallen, anders. Anders reichte. Obschon damit ja über die Qualität dieses vermeintlich Originellen jenseits seiner mutmasslichen Andersartigkeit noch rein gar nichts gesagt ist. Und die Qualität war und ist nicht selten erbärmlich. Ich kenne das aus dem sogenannten Literaturbetrieb: Sogenannte Schriftsteller, die sprachlich und/oder inhaltlich unbedingt «originell» sein wollen, sind regelmässig die Schlimmsten; Paradebeispiele für einen esoterischen Literaturbegriff, dem jede vermittelnde Virtuosität des Erzählens abgeht. Kitsch. Dabei ist Kitsch im Grunde die Konvention, aber es gibt eben nichts Konventionelleres als das desperate Streben nach Originalität. Ein Monument dieses Strebens steht gerade am Zürcher Limmatquai in Form eines Hafenkrans.

Pseudo-Originalität als Zeichen von Orientierungslosigkeit

Die Pseudo-Originalität der spätmodernen Gegenwart ist das Zeichen eines vielfachen Vakuums, einer umgreifenden Orientierungslosigkeit – in Verbindung mit dem Zwang des elektronisierten Menschen zur permanenten Vigilität und Visibilität. Mühelos lässt sich bei einer kleinen Bemusterung feststellen, dass nahezu jede Abteilung unserer gegenwärtigen popkulturellen Lebenswirklichkeit – Mode, Werbung, Grafik, Design – einen überdeutlichen Zug und Willen zum Originellen und Originalen in sich trägt und ausstellt. Nun scheint einerseits im heutigen Zeitalter des Stilpluralismus die Erreichung von Originalität immer schwieriger zu werden. Andererseits aber bietet eine wachsende Sophistizierung der Warenwelt ganz neue Möglichkeiten für den Konsumbürger: komplexe Narrative der Selbsterschaffung. Das wiederum verstärkt natürlich die Orientierungslosigkeit. Herrje.

Vielleicht sollten wir lieber mal wieder zurück an die Anfänge gehen. Vielleicht sollte man sich lieber mal wieder darauf besinnen, dass der Begriff der Originalität in der Tat durchaus eine qualitative Komponente impliziert. Was nämlich bedeutet Originalität? Laut Duden: «1. Echtheit. 2. [auffällige] auf bestimmten schöpferischen Einfällen, eigenständigen Gedanken o. Ä. beruhende Besonderheit; einmalige Note.» – Also, zusammenfassend: Authentizität und Kreativität. Oder: Echtheit und Könnerschaft. Das wiederum ist das gerade Gegenteil der Pseudo-Originalität jener Leute, die immer bloss anders sein (bzw. genauer: anders aussehen) wollen als andere Leute und in diesem Bestreben genauso massenhaft konventionell sind wie jener Strom, von dem sie sich abzugrenzen trachten. Denn Menschen, die immer nur anders sein wollen als die anderen, sind in der Struktur ihres Begehrens ironischerweise jenen identisch, die immer nur sein wollen wie die anderen.

Hinter der zeitgenössischen Verdrehung des Originalitätsbegriffs stecken eine Fixierung auf Oberflächen, verkürzte Aufmerksamkeitsspannen – sowie letztlich paradoxerweise gerade die Scheu, einen Standpunkt zu beziehen. Das Paradoxon wird perfekt, wenn Originalität selbst zur Mode wird, deren Gegenteil sie doch eigentlich sein sollte. In der materialistischen Hipster-Pseudo-Originalität der urbanen Mittzwanziger und Mittdreissiger, vielleicht der Hauptstimmung des digitalen Zeitalters in der westlichen Welt, lässt sich unschwer eine Haltung der Unsicherheit, Resignation, Risikoscheu und kulturellen Taubheit erkennen, die das Leben defensiv als endlose Reihe von leeren Sarkasmen und popkulturellen Referenzen zu bewältigen sucht und sich vorzüglich digital, etwa über soziale Netzwerke, darzustellen weiss. Statt sich durch eine eigene Meinung, Position, Festlegung zu exponieren, lässt man sich lieber tragen von der sogenannten Crowd: der virtuelle Schwarm wird zum Referenzpool. Das ist natürlich in Wahrheit das Gegenteil von Originalität. Das ist vielmehr die Furcht vor dem eigenen Standpunkt angesichts einer überwältigend scheinenden Vielzahl an möglichen Positionen und Traditionslinien, angesichts des vagen Gefühls, dass man, konfrontiert mit der Hinterlassenschaft an Meisterleistungen, selbst womöglich wenig Originelles anzubieten hätte.

Originalität und Freiheit

Michael Hampe, Professor für Philosophie an der ETH Zürich, ist der Auffassung, dass im kapitalistischen System Selbstfindung über Konkurrenzsituationen laufe, und über käufliche Masken, mit denen man sich nach aussen von anderen unterscheiden kann. Das sei etwa die Funktionsweise von Marken. Woraus Hampe den unplausiblen Schluss zieht, dass wir durch Konkurrenzlogiken systematisch in die Selbstentfremdung getrieben würden, weil eben ein gelingendes Leben kein Konkurrenzdenken kenne. Diese Auffassung entspricht zwar einer billigen Zeitgeistlinie, ist aber weltfremd und empirisch überwältigend widerlegt. Wesentlich näher an der Wirklichkeit ist wiederum Herr Bolz, der die emanzipatorischen Möglichkeiten der Selbstfindung und Selbsterschaffung gerade durch eine Vielzahl von Konsumoptionen für das spätmoderne Subjekt konstatiert. Hampe hingegen vernachlässigt zum Beispiel völlig die vermittelnde Rolle echter Ironie, wenn er das Wissen darüber, welches Leben man führen will, in etwas plumper Manier einer materialistischen Ichsucht im Sinne eines kompetitiven Distinktionsbedürfnisses gegenüberstellt.

Menschen, die wirklich originell sind, können sich zu ihrem eigenen Leben in ein Verhältnis setzen. Sie können sich darüber hinaus durchaus zu anderen in Vergleich und Konkurrenz setzen, aber sie wissen (nicht zuletzt durch den Vergleich!), was das eigene Leben ausmacht. Sie haben Helden, Ideen und den Ehrgeiz, ihr Sosein zu transzendieren. Sie sind ausgezeichnet durch die Wesenszüge des Standhaltens, des Selbstvertrauens und dessen, was Nietzsche das «Vornehm-sein» nannte: für Nietzsche gehört das Vornehm-sein, das Für-sich-sein-wollen, das Anders-sein-können, das Allein-stehn und Auf-eigene-Faust-leben müssen zum Begriff «Grösse». Ein Einzelner zu sein, ist einerseits, wie Bolz schreibt, «die Häresie unserer Zeit» – doch man kann andererseits auch originell sein, ohne einsam zu sein, zum Glück. Denn Originalität, wahre Originalität ist: Mut zur Freiheit. Originalität hat etwas mit Eigenwillen zu tun, auch mit dem Verhältnis des Einzelnen zum Kollektiv: je totalitärer irgendein Regime, desto weniger Originalität erlaubt es naturgemäss. Echte Originalität ist das wesensmässig andere, als solches übrigens, obschon qualitativ definiert, zunächst relativ wertfrei; die originelle Verbindung von Ideen kann schöpferisch sein – auch aber zerstörerisch. Fest hingegen steht: Wirklich originelle Menschen, echte Originale, sind seit jeher selten. Und werden es bleiben. Originalität im Sinne von Echtheit, Einfallsreichtum, Phantasie, Genie, Skurrilität, Ursprünglichkeit lässt sich, wie Ironie, nicht lernen. Das ist unfair, aber wahr. Künstler würden heutzutage mehr beneidet als Millionäre, diese Feststellung des amerikanischen Literaturnobelpreisträgers Saul Bellow ist nach wie vor gültig.

Doch was man lernen kann, ist der Mut zur Entwicklung der eigenen Meinung, der Mut, für das einzustehen, was man als richtig erkannt hat, und nicht in irgendeinem Schwarm mitzuschwimmen, nur weil das so komfortabel scheint. Wirklich originell wirkt es heutzutage, wenn man lernt und wagt, die Dinge wieder ernst zu nehmen. Wahre Ironie nimmt ja auch das Leben ernst, nur deshalb kann sie sich über seine Absurdität erheben. Wahre Originalität, nicht als modebewusstes Zitat, sondern als Geisteshaltung, als Haltung der Distanz und skeptischen Reserve, hat eine Meinung. Ebenso wichtig ist die Schulung der Skepsis gegenüber einer blossen Pose der Originalität, die nichts als Staffage und Kulisse ist. Denn genauso peinlich wie forcierte Unkonventionalität ist allerdings die stumpfsinnige Akklamation des vermeintlich Unkonventionellen. Ich sage nur: Hafenkran. Auf dem Gebiet der Umgangsform, das haben wir in diesem Magazin schon festgestellt, ist eine konventionelle Note schliesslich nichts anderes als ein Gespür für Takt und Umgangsform. So dare to think inside the box. Thank you.

Bild oben: Orignell oder einfach massentauglich? Männer tragen jedenfalls wieder Schnauz. Foto: Flickr

23 Kommentare zu «Müssen wir alle originell sein?»

  • tststs sagt:

    Ouhhh Dr. Tingler, heute zaubern Sie ausnahmsweise gar kein Lächeln auf meine Lippen:
    1) „ist der Mut zur Entwicklung der eigenen Meinung“: dies ist IMHO gerade der schlimmsten Auswuchs dieser Originalität- und Individualitätswelle: Jede/r muss zu allem eine Meinung haben und diese selbstverständlich kundtun (denn man bedenke: zum Meinung haben braucht es noch nicht so viel Mut, um sie zu verkünden schon…wobei eben heute ist es doch eher Zeichen von Unüberlegtheit (bis hin zur offensichtlichen Dummeheit) denn von Mut
    2) Freiheit?!? Gibt es etwas Möchtegern-Originelles als Freiheit…

    • tststs sagt:

      Einmal mehr muss ich good ol‘ Janis bemühen: Freedom is just another word for nothing left to lose…
      3) „Denn Menschen, die immer nur anders sein wollen als die anderen, sind in der Struktur ihres Begehrens ironischerweise jenen identisch, die immer nur sein wollen wie die anderen.“ + „und nicht in irgendeinem Schwarm mitzuschwimmen, nur weil das so komfortabel scheint“ hüstelhüstelwiderspruchhusthust…
      4) Ich getrau mich es fast nicht zu schreiben: aber früher haben mich an der Uni immer diejenigen Gelehrten abgeschreckt, die waaaahnsinnig viele Fach- und Fremdwörter gebraucht haben;

    • tststs sagt:

      Es erschien mir dann immer so, als müssten sie fehlendes Wissen/Kreativität/Originalität hinter einer möglichst schwer verständlichen Sprache (Stichwort: Oberflächlichkeit) verstecken…
      5) 🙂

  • Thomas M. Germann sagt:

    In meiner Privatbibliothek findet sich auch ein Buch von Norbert Bolz: „Das Wissen der Religion. Betrachtungen eines religiös Unmusikalischen“ (2008). Das Thema gefällt, aber die Ausführungen kamen mir streckenweise etwas seltsam vor. Vielleicht sollte ich es wieder mal lesen.
    Einer meiner Anmachsprüche lautet deshalb: „Soll ich Dir meine Bibliothek zeigen?“ Originell, nicht? Erstaunlicherweise zeigen sich namentlich jüngere Männer darüber amüsiert und steigen (ab und zu) darauf ein. Zu meinem Glück! 😉

    • Markus Meier sagt:

      Mir schwant Böses. Hoffentlich dürfen die Jünglinge dann als Entlohnung auch ein paar Laufmeter Bücher nach Hause nehmen.

    • Thomas M. Germann sagt:

      Lieber Markus Meier, ein paar Laufmeter sind es jeweils nicht. Ein gelbes Bändchen aus der Reclam Universalbibliothek muss reichen. Zumeist ist es Ödön von Horváths „Jugend ohne Gott“ (UB 18612).

  • SrdjanM sagt:

    Passt, stimmt.
    Nur eine Kleinigkeit: die Pseudo-Originalität ist noch bei weitem nicht die Hauptstimmung des digitalen Zeitalters, dafür muss sie noch den allgegenwärtigen Zynismus ablösen.

  • Ricco Morales sagt:

    Die Analyse ist gut, die Empfehlungen ebenfalls. Allerdings frage ich mich, ob nicht gerade auch Gesellschafts-Blogs (nicht böse gemeint, ich lese diesen hier gerne) die Menschen in die Pseudo-Originalität treiben. Ja, viele Menschen sind heute bedauerlicherweise orientierungslos. Wer sich vor all den medialen Urteilen und lästernden Mitmenschen (zu altmodisch, zu langweilig, zu humorlos, zu schlecht angezogen, zu ungebildet, zu arm, zu unoriginell…) nur in die Hipster-Rolle zu flüchten weiss, verdient vielleicht auch etwas (echtes, wohlwollendes) Verständnis anstatt nur Verachtung und Häme.

    • tststs sagt:

      Mhhhh, ich frage mich gerade, ob eine gewisse Orientierungslosigkeit nicht jeden aufgeklärten Menschen von Zeit zu Zeit trifft… Den ersten Menschen gaben die Triebe und ihre Befriedigung Orientierung, sie wussten, was zu tun war: Magen füllen, die nächste Generation heranzüchten, Feuer am Leben erhalten, Magen entleeren, Schlafplatz sichern. Dann folgten tausende Jahre, wo Religion den Weg vorgab. Und heute…? Ja heute ist das alles nicht mehr so einfach…man muss zuerst seine Originalität suchen. Und ja, es kommt sicherlich zu zahlreichen Fehlversuchen, die erscheinen dann als das, was

    • tststs sagt:

      Sie wohl als Pseudo-Originalität bezeichnen. Es mangelt dann irgendwie an Authentizität…aber hey, ich kann doch niemandem einen Vorwurf machen, weil er auf der Suche ist… wenn schon eher das Gegenteil. In diesem Sinne kann ich Ihren Aufrag nach Verständnis nur unterstützen.

  • Mike sagt:

    Die wichtigste Erkenntnis scheint mir zu sein, dass sich Originalität darüber definiert, was „Mainstream“ ist und gewollte Originalität darum zwangsläufig auch an der Mode orientiert und mit Individualität folglich nichts zu tun hat.
    Und was das Entwickeln einer echten eigenen Meinung angeht, das ist leider keine verlorene Kunst, sondern eine, die schon immer nur eine Minderheit beherrscht hat – die meisten Menschen sind dazu leider schlichtweg zu faul. Es ist nämlich anstrengend. Und manchmal unangenehm. Und darum lässt man sich lieber vom Friday-Cover erklären, wie man originell ist.

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