Beste Feinde

Sie erinnern sich vielleicht. Schon in Ihrer Jugend hatten Sie diesen Freund, mit dem Sie immer um irgendwas konkurriert haben: Wer das bessere Motobécane-Fahrrad hatte (bzw. das bessere Puch-Maxi-Töffli, falls Sie ein Rocker waren; oder die bessere Piaggio Ciao, falls Sie ein Popper waren). Oder den teureren Benetton-Pullover (bzw. das coolere Ben-Sherman-Hemd, falls Sie ein Mod waren). Wer welche Parties besuchte, wer mehr Alkohol vertrug, wer zuerst Sex hatte. Wer zuerst in Amerika war. Wessen Eltern den Pool hatten. Später gab es dann so bestimmte Studienfreundinnen oder Arbeitskollegen, im Verhältnis zu denen es immer auch wichtig war, wer die besseren Karrierechancen hatte. Oder die bessere Figur. Die bessere Kreditkarte, den besseren Lebenspartner. Wer mehr Alkohol vertrug, wer mehr Sex hatte. Wer zuerst auf St. Barts war. Wer den grösseren Pool hatte.
Vielleicht kommt Ihnen das bekannt vor. Und vielleicht ist es Ihnen auch schon aufgegangen: All diese Leute waren und sind gar nicht Ihre Freunde. Es sind Ihre Freinde. Oder Freindinnen. Beziehungsweise «Frenemies». So heisst, in einem Zusammenzug aus «Friend» und «Enemy», jene Mischung aus Freundschaft und Feindschaft in der angelsächsischen Welt, die dem Rest des Planeten in der Benennung und Beobachtung gesellschaftlicher Phänomene ja immer einen Schritt voraus ist. Die Wortschöpfung «Frenemy» verdanken wir Candace Bushnell. Und wer oder was ist Candace Bushnell, werden sich an dieser Stelle einige Leser (besonders die heterosexuellen Männer) fragen, und denen gebe ich ein anderes Stichwort – bzw. vier Stichworte: Sex and the City. Das war diese Fernsehserie, über die Patty Bouvier, Schwester von Marge Simpson, Hausfrau aus Springfield, USA, gesagt hat: «Da geht’s um vier alleinstehende Frauen, die in New York leben und sich benehmen wie schwule Männer.» Die Serie war überaus erfolgreich, weil sie post-feministisch schien und Worte wie «Sperma» vorkamen, und als Basis für «Sex and the City» fungierte eine gleichnamige Episodennovelle, verfasst von – Candace Bushnell.
Frau Bushnell schrieb anschliessend einen weiteren Episodenroman, «Four Blondes», mit etwa demselben Inhalt, nur dass jetzt alle blond waren, gefolgt im Jahr 2003 vom dritten Werk «Trading Up», wo sich ein Unterwäschemodell nach oben schläft, gefolgt von «Lipstick Jungle» (2005), wo Damen mit makellosem BMI um die Vereinbarkeit von Leben und Karriere ringen. Candace Bushnell ist ein Phänomen, sie sieht alterslos und proper aus, wie eine Hausfrau aus Stepford und sämtliche ihrer Protagonistinnen; sie ist das vollendete Selbsterschaffungsprojekt, ein Phantom auf Manolo Blahniks, hart und erfolgreich und so diszipliniert wie die kongeniale Sarah Jessica Parker, die ihr Alter Ego Carrie Bradshaw verkörperte und, obschon vom Konstitutionstyp eher zur Fülle neigend, nur noch aus Sehnen und Muskeln besteht.
Überall Frenemies
Es stimmt, dass Frau Bushnell die Widersinnigkeiten modernen urbanen Lebens auf den Punkt gebracht hat: Materialismus und Melancholie, Reichtum an Schuhen und Armut an Gefühl. Und überall Frenemies: diejenigen Feinde, mit denen wir Freundschaften vortäuschen, weil der Konflikt zu kostspielig wäre. (Übrigens sind Frenemies beileibe kein Frauenphänomen; ich sage nur: Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine.) Frenemies begleiten den spätmodernen Menschen, sofern er nicht zum Eremiten wird, ein ganzes Leben. Ob der Mensch nun Supermarktkassierer, Filmproduzentin, Raketenforscher oder Sozialhilfeempfänger ist. Jeder von uns hat mindestens einen besten Feind, und Sie denken an dieser Stelle doch auch schon an eine bestimmte Person, nicht wahr? Falls Sie allerdings nicht bloss an eine, sondern an zahlreiche Personen denken, also Ihr Bekanntenkreis zu einem guten Teil aus Frenemies besteht, dann ist dies ein Zeichen dafür, dass Sie sich in einer sozialen Sphäre bewegen, in der gesellschaftliche Kontakte besonders wichtig sind. Hier blühen die Freindschaften, die stets nach demselben Prinzip funktionieren: Ich kann dich eigentlich ebenso wenig leiden wie du mich; du bist mir bestenfalls egal – aber wenn du mir hilfst, helfe ich dir.
Ein Paradebeispiel dafür ist die Unterhaltungsindustrie im weiteren Sinne. Da bewegen sich Heerscharen von Frenemies. Das sind die Leute, die Sie auf Modenschauen oder Buchpremieren mit weit geöffneten Armen oder herzlichem Schulterklopfen begrüssen, obschon man sich gegenseitig die sieben Plagen an den Hals wünscht. Typische Freindessätze (Frenemy Lines) auf solchen Anlässen sind zum Beispiel: «Ohh, ich wollte dich heute Nachmittag anrufen!» / «Ohh, du musst unbedingt XYZ kennen lernen!» / «Ohh, man hat dich vermisst bei der Louis-Vuitton-Party am America’s Cup!» / «Ohh, ich liebe dein neues Kleid / Buch / Coverphoto!»
Die Logik der Konkurrenz
Vor dem Hintergrund, dass das Showgeschäft heute für die werktätigen Massen das Verhaltensparadigma vorgibt und wir in sozialen Kontexten existieren, die zum Beispiel der bekannte deutsche Soziologe Hartmut Rosa als Beschleunigungsgesellschaft charakterisiert, muss man konstatieren, dass Frenemy-Beziehungen zunehmen. Wir leben in einem sich selbst antreibenden eskalierenden System einer sozial produzierten Beschleunigungslogik, sagt Rosa, gekennzeichnet durch kurzlebige Produkte, erfahrungsarme Erlebnisse und die trivialen Resonanz sozialer Netzwerke. Das führt dazu, dass wir uns in sämtlichen Sphären unseres Lebens, nicht nur der ökonomischen, einem Wettbewerbssystem mit der Logik der Konkurrenz unterwerfen: Status, Aussehen, Freunde, Besitz. Der Schnellste frisst alles.
Natürlich ist ein gewisses Konkurrenzmoment jeder menschlichen Beziehung eingeschrieben, weil es der menschlichen Psyche eingeschrieben ist. (Auch wenn der Dalai Lama das vielleicht nicht wahrhaben will. Aber wir glauben, auch der Dalai Lama hat seine Frenemy Moments, in denen er sich darüber aufregt, dass Richard Gere mal wieder mehr Aufmerksamkeit bekommt als er.) Sogar richtige, echte Freunde konkurrieren um Erfolg, aber das hat nichts mit Freindschaften zu tun. Frenemies sind eben nicht schlechtere Freunde, sondern bessere Feinde. Also Charaktere, die man im Grunde nicht besonders mag, mit denen man sich eine Feindschaft aber schlicht nicht leisten kann oder will, weil von der Freindschaft, dem Waffenstillstand ohne Friedensvertrag, beide Seiten profitieren. Dieser Profit kann in Sozialprestige, Karrieremöglichkeiten, Sex oder anderen Formen des Machtgewinns bestehen. Von der Telefonnummer des richtigen Dermatologen über Investmenttipps bis zur Verbindung gegen einen gemeinsamen Gegner – die Transaktionen sind vielfältig. Leute haben schon jahrelange Freindschaften gepflegt, bloss um einen guten Tisch im «Le Cirque» zu ergattern. Gulfstream-Besitzer können sich vor Frenemies kaum retten.
Und selbstverständlich wird nicht jede Person, zu der man aus strategischen Gründen freundlich ist, gleich zum Intimfreind. Für den besonderen psychischen Cocktail der Frenemy-Beziehung, bei dem es sich üblicherweise um eine Mischung aus beidseitiger unausgesprochener Abneigung, wechselseitigem Misstrauen und gegenseitigen Vorteilserwartungen handelt, müssen vielmehr bestimmte Bedingungen gelten, vor allem ein regelmässiger (wenn auch noch so sporadischer) Kontakt und ein irgendwie geartetes (wenn auch für Aussenstehende unter Umständen noch so obskures) Gleichgewicht der Kräfte als Basis für ein Transaktionsverhältnis. Diese Bedingungen können zu allen Zeiten und in allen Gesellschaftssystemen erfüllt sein. Kain und Abel waren nicht nur Brüder, sondern auch Frenemies. Leider hielt ihre Freindschaft nicht, sonst wäre viel Unheil verhütet worden (die Verminderung sozialer Kosten, wie sie zum Beispiel mit Mord und Totschlag verbunden sind, ist einer der wichtigsten Gründe für Frenemy-Beziehungen). Die strategische Regel, man müsse dem Rivalen näher bleiben als einem guten Freund, wurde bereits im Neandertal praktiziert, und die eisigen Luft-Küsschen oder das gefrorene Lächeln zwischen Jesus und Judas, Nancy Reagan und Raissa Gorbatschowa, Anna Wintour und Kimye, Barack Obama und Hamid Karzai, Paris Hilton und – jedem… wiederholen sich alltäglich hunderttausendfach auf Schiffstaufen oder Botschaftsempfängen, in Grossraumnischen und Gemeindezentren, von Aspen bis Attinghausen.
Strategische Freundschaften stabilisieren die Gesellschaft
Viele Menschen betrachten Freindschaften eher als ein notwendiges Übel und Freinde als Personen, mit denen man so wenig Zeit wie möglich zu verbringen versucht. Jedoch lässt sich nicht leugnen, dass die westlichen Wettbewerbsgesellschaften, in denen wir glücklicherweise leben, ohne das Institut der Freindschaft schlechterdings auseinanderfallen würden. Freindschaften sorgen dafür, dass Cocktailparties (und andere gesellschaftliche Anlässe mit Alkoholausschank) zivilisiert bleiben und Dinnerparties möglich werden. Nicht nur das Showgeschäft, sondern auch grosse Teile der Welt der Wirtschaft und Wissenschaft brächen sofort zusammen, wenn jede Freindschaft zur Feindschaft erklärt würde. Das Ergebnis wäre das soziale Äquivalent des nuklearen Winters, und davor bewahrt uns nur die Mutually Assured Social Destruction (MASD), also die gegenseitige Fähigkeit zur gesellschaftlichen Ruinierung, die in der Beziehungsform der Freindschaft in einem Gleichgewicht des Schreckens strategisch institutionalisiert und ausbalanciert wird. Wir sind inzwischen in die Sprache der Machtpolitik abgerutscht, und das ist die Stelle für einen beinahe überflüssigen Hinweis: Auch die politische Sphäre beruht auf Freindschaften. Politik ist ja per definitionem strategisches Handeln. Helmut Kohl und Margaret Thatcher waren dicke Freinde. Frau Merkel und Herr Stoiber sind Frenemies. Alle Bundesräte, mehr oder weniger. Wladimir Putin ist wohl jedermanns Frenemy. Und Kofi Annan zitiert gerne ein altes Sprichwort aus Ghana: Haue nie dem Mann auf den Kopf, zwischen dessen Zähnen du deine Finger hast.
Das Ganze mutet reichlich machiavellistisch an und scheint das Gesellschaftsleben zu einer anstrengenden diplomatischen Übung zu machen. Aber nur in der Theorie. In praxi muss man sich bloss an die Rituale halten. Potentielle Frenemies wittern sich in der Regel schnell und signalisieren sich gegenseitig, dass die altrömische Vertragsmaxime «Do Ut Des» («Ich gebe, damit du gibst») ihr Gesellschaftsleben leitet. Ein Signal, was auf einen zukünftigen Freind hindeutet, ist beispielsweise exzessives Name Dropping in der Unterhaltung mit einer neuen Bekanntschaft. Die Gefahr, man könnte Freinde mit Freunden verwechseln, ist insgesamt bereits bei mittelmässiger Gesellschaftserfahrung ziemlich gering.
Dass demgegenüber aus Frenemies irgendwann wirkliche Freunde werden können, ist unwahrscheinlich. (Genauso wenig können aus echten Freunden jemals Freinde werden – Feinde hingegen schon.) Höchstens vielleicht, nachdem man zusammen irgendeine Katastrophe durchmachte oder sich ganz furchtbar betrunken hat. In letzterem Fall kann die Freundschaft schon am nächsten Tag wieder in eine Freindschaft zurückkippen. Was vielleicht sogar besser ist. Das Verletzungsrisiko ist allemal geringer. Und wenn man schon unbedingt dem menschlichen Hang nachgeben will, sich nicht nur mit seinen Feinden, sondern auch noch gleich mit seinen Freinden zusammenzutun, dann sollte man seinen Best Frenemy am besten heiraten. Aus Freindschaften können nämlich sehr dauerhafte Ehen hervorgehen. Denken Sie nur an den Herzog und die Herzogin von Windsor.
Bild oben: Freunde? Nein, Freinde! Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine 1998. (Reuters)
16 Kommentare zu «Beste Feinde»
Ja Henry und wenn die Wahrheit dann auch so schmerzhaft sein sollte darf man dann einfach schweigen, die andere Lösung.
Da haben Sie wohl recht, es gibt hierzu in dem vom „Ich -Erzähler“ Nick Carraway vorangestellten Einleitungmonolog in Fitzgeralds Gatsby auf den ersten Seiten des Buches wundervolle Einsichten.