Halt die Klappe, Jessie!

Ich kenne Jessie Yee Wai Ching nicht. Und ich muss sie auch nicht kennen. Um zu finden, sie hätte die Klappe halten sollen. Jessie Yee Wai Ching ist jene chinesische Studentin, die nach dem Verschwinden von Malaysia Airlines Flug MH370 nichts Besseres zu tun hatte, als sich vor Mikrofone und Fernsehkameras zu stellen und zu erklären, oh, beinahe wäre sie auch auf diesem Unglücksflug gewesen, sie habe ein Ticket für den Todesflug gebucht, ihn aber verpasst, weil sie zu spät am Flughafen eintraf. «Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich die eine war», erklärte Frau Ching glücklich. Aber es sei ein schreckliches Gefühl, zu wissen, dass über 200 Personen im Flugzeug waren – und dass sie eine von ihnen hätte sein können.
Soweit Frau Ching. Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, meine Damen und Herren; ich für meinen Teil finde es schon schändlich und schrecklich, dass bei jeder Katastrophe von der Art MH370 vollkommen schamlos die trauernden Angehörigen gefilmt werden, das sollte verboten werden. Und der Gipfel der Geschmacklosigkeit sind dann noch Gestalten wie Frau Ching, die sich auf eine Bühne stellen und rufen: «Seht her, beinahe hätte es mich auch getroffen – was für ein Glück, dass ich verschont blieb! Schreckliches Gefühl, die Vorstellung, einer von diesen anderen gewesen sein zu können, schrecklich!» Sieht hier niemand das Blödsinnige und Pietätlose? Wem hilft so ein Auftritt? Wem nützt das? Was bringt das? Ausser der Befriedigung von Geltungsdrang und Sensationsgier? Das sind keine Nachrichten. Das ist gar nichts. Nur verkommen und geltungssüchtig.
Fest steht: Die Opferrolle ist in der medialen Spektakelgesellschaft ein valider claim to fame (wenn auch nicht jede Opferrolle, wohlgemerkt, es muss die richtige sein); und Pseudo-Opfer wie Frau Ching haben für die Medien den Vorteil, dass sie sprechen können. Und, vor allem: wollen. Und Frau Ching ist nicht allein. Sie verkörpert einen Typus, dessen Zahl Legion ist. Nach jeder Katastrophe, jedem Beben und Brechen, folgt der Tsunami der Pseudo-Opfer, und die Mutter aller Pseudo-Opfer-Katastrophen ist der 11. September. Ich kann mich noch sehr gut an den 11. September 2001 erinnern, und ich weiss noch, wie im Nachglühen der Apokalypse die Pseudo-Opfer immer dreister wurden. Zuerst war es nur die Oh-beinahe-wäre-ich-auch-auf-diesem-Flug-gewesen-Fraktion (allen voran Mark Wahlberg, der dann 10 Jahre später nochmal kurz hinzufügte, wenn er nicht seine Pläne geändert und eben doch auf American Airlines Flug 11 von Boston nach Los Angeles gewesen wäre, damals, – hätte er die Terroristen zweifellos überwältigt). Dann kamen die, die sagten: Oh, beinahe wäre ich auch an jenem Tag in New York gewesen. Wenn ich nicht in letzter Sekunde meine Ferienpläne geändert und nach Bangkok geflogen wäre. Was für ein Glück! Und dann folgte endlich die Sorte von Opfern, die der famose Larry David in seiner famosen Serie «Curb Your Enthusiasm» in der Episode «The Survivor» portraitiert:
[Larry notices a picture on his rabbi’s desk]
Larry: Is that you?
Rabbi: That’s… that’s Eddie Solomon. My brother-in-law. He, ummm… he died on September 11th.
Larry: Oh my gosh. Oh, I’m so sorry.
Rabbi: Yeah. Terrible.
Larry: He was in the building?
Rabbi: No, no. He, he was… uptown on 57th Street. He got hit by a bike messenger.
Der deutsche Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen geht davon aus, dass wir in einer sogenannten Casting-Gesellschaft leben, deren Imperativ in jedem Fall lautet: Liefere eine Show! Der Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit wird dabei zum Versatzstück des Alltags breitester Bevölkerungskreise, die mit Prominenz gar nichts zu tun haben, sich selbst aber nicht als «nicht-prominent», sondern als «noch-nicht-prominent» verstehen. Also: Fame Junkies, die ihre 15 Minuten wollen, aus denen längst 15 Sekunden geworden sind. «Sie tauschen Intimität, Vulgarität und Stupidität gegen Publizität, sie offenbaren Privates, Intimes, Primitives – einfach nur, um einmal vorzukommen», sagt Pörksen. Das nährt einen Teufelskreis, einen zirkulären Wirkungszusammenhang von Medienmaschinerie und Casting-Ideologie, von Geltungssucht und deren öffentlicher Therapie. Und diesen Mist möchte ich heute ganz kurz durchbrechen, indem ich Jessie Yee Wai Ching zurufe: Halt mal die Klappe. Danke still Deinem Schicksal, dann gedenke der wirklichen Opfer und halte einfach mal die Klappe!
Bild oben: Jessie Yee Wai Ching hat ihren grossen Auftritt im malayischen Fernsehen. (Twitter)
36 Kommentare zu «Halt die Klappe, Jessie!»
Wie oft bringt es Herr Tingler auf den Punkt, Danke.
Dem ist nichts hinzuzufügen. Da ich jedoch auch gerne meine 15 Millisekunden hätte, schreibe ichs trotzdem. Was mich auch noch seit etlichen Monaten beschäftigt ist, obs nochmal ne Staffel „Curb“ geben wird. HBO hält sich bedeckt.
Ich stimme Ihnen voll und ganz zu! Ich dachte in den letzten Tagen einige Male, dass es pietätslos ist, wie sich Frau Ching verhält. Aber schlussendlich ist es vermutlich einfach das Resultat davon, dass so viel nicht bekannt ist – man weiss nichts von der Geschichte zu berichten, nichts Neues von der Suchaktion, man ist immer noch gleich weit, gleichwohl will man nicht die Geschichte von der Titelseite verbannen, also wird ein Platzhalter besucht, und dann kommt halt Frau Ching ganz gelegen.
Ich warte darauf, bis der medial entdeckt wird, der beim häuslichen Frühstück im Kreise seiner Lieben, sinniert, warum er nicht in dem Flugzeug gesessen sei……
Diesem Artikel kann ich nur zustimmen. Da war auch das Bild in den diversen Medien von dem Italiener dem der Pass in Phuket gestohlen wurde. Dieser Pass wurde dann von einem Iraner für den Flug mit MH 370 benützt. Dieser besagte Italiener wurde ziemlich schnell von den Medien aufgespürt. Auf dem Bild kann man sehen wie er mit einem strahlendem Lachen den Photographen seinen neuen Pass vor die Nase hält. Ha, ha ich bin nicht gestorben. Sein gutes Recht sich so aufzuführen. Aber wäre da auch nicht ein bisschen Zurückhaltung angebracht gewesen ? Für mich völlig pietätloses Verhalten.