Bioleben

In Berlin, meine Damen und Herren, wo ich neulich wieder einmal war, gibt es gleich kettenweise Biosupermärkte. Das wäre auch hier in unserer schönen Schweiz eine Goldgrube. Ich rolle da also mit meinem Einkaufswagen mit irgendwelchem Biozeugs an die Kasse, als ich so ungefähr auf Kniehöhe eine Stimme höre: «Eigentlich darf der Mann nicht vorgehen!»
Die Stimme gehörte einem kleinen Mädchen, das sich halb versteckt hinter einem riesigen Einkaufswagen befand, der neben der Kasse stand. Da ich meinerseits Leute grässlich finde, die sich in einer Schlange vorzudrängeln versuchen, und so was auch gerne öffentlich rüge, im Grunde mich also supi mit diesem kleinen Mädchen identifizieren konnte, machte ich den (mutmasslichen) Vater ausfindig, der in der Nähe des Wagens die Rückseite einer Bioflockenverpackung studierte, und sagte was wie: Es täte mir leid, wenn ich hier einfach so vorbeigerollt wäre, selbstverständlich könnten Vater und Tochter vor mir an die Kasse, falls sie dies wünschten. Nein danke, erwiderte der Vater, sie würden noch auf die Mutter warten.
«Okay», sagte ich, «ich wollte nur nicht, dass das Kind seinen Glauben an die Menschheit verliert.»
«Dies», konstatierte der Vater in berlinischer Ungerührtheit, «wird früher oder später sowieso passieren.»
Ja, der Glaube an die Menschheit. Ist er verwandt mit dem Glauben an die Gesundheit? Oder stehen diese beiden Auffassungen in einem konfligierenden Verhältnis? Der Glaube an die Gesundheit ist nicht zuletzt ein Hauptgrund für das Hervorspriessen von Bioprodukten, und gleichzeitig habe ich bei Byung-Chul Han gelesen, dass das spätmoderne Ich in der postindustriellen Welt ganz vereinzelt sei; auch die Religionen als Thanatotechniken, die dem Menschen die Angst vor dem Tod nähmen und ein Gefühl der Dauer hervorbrächten, hätten ausgedient, und die allgemeine Entnarrativisierung der Welt verstärke das Gefühl der Vergänglichkeit. «Aufgrund der fehlenden narrativen Thanatotechnik entsteht der Zwang, dieses blosse Leben unbedingt gesund zu erhalten», schreibt Han, «schon Nietzsche hat gesagt, dass nach dem Tod Gottes die Gesundheit sich zu einer Göttin erhebe. Wenn es einen Sinnhorizont gäbe, der über das nackte Leben hinausginge, würde sich die Gesundheit nicht dermassen verabsolutieren können.» Und dann hätten wir nicht kettenweise Bioläden.
Das ist die eine Sache. Und dann wäre da noch eine andere Frage, zum obigen Bild, das ich extra für Sie aufgenommen habe, meine Damen und Herren: Wie kann es sein, dass Biogurken von Kopf bis Fuss in Plastik verschweisst werden?
11 Kommentare zu «Bioleben»
das natürliche ist schon lange VERLOREN, und biologisch ist nicht unbedingt natürlich….Plastik zeugt von Sterilität und das wird schlussendlich auch den menschen kaputt machen, heute sind es noch die wale welche durch diesen F. FORTSCHRITT ihr leben verlieren, in Zukunft vielleicht auch wir…..
Die Biogurke in Plastik ist nervig – das finden auch die Leute, die dafür verantwortlich sind – aber es soll Sicherheit vor Vertausch geben: Es darf nicht möglich sein, eine konventionelle Gurke mit wenigen Handgriffen zu einer Biogurke zu machen (sprich aus der Konventionellen Kiste nehmen und in die Biokiste legen) – dort wo die Gurken durch viel Hände gehen, will man das Risiko nicht eingehen.
Nur dort, wo der Warenfluss zwischen bio und nicht-bio absolut getrennt oder sehr kurz und übersichtlich ist, wagt man es, nur mit Aufklebern zu arbeiten.
Herr Tingler, ich habe kurz nachgedacht, wie ich es weniger schwärmerisch ausdrücken könnte. Aber mir fällt nichts ein. Das war einer der genialsten Texte, die ich je gelesen habe. Herrlich, herrlich. Dann habe ich noch einmal kurz nachgedacht und beschlossen: Den werde ich ausdrucken und an die Wand hängen.
you made my day, Katharina:)