Der Preis der Schönheit

Gestatten Sie mir heute vorab folgende Bemerkung, geschätzte Leserschaft: Es gibt eine zivilisierte, aufgeklärte, weltgewandte Schweiz. Die gibt es schon sehr, sehr lange, mit guter Tradition. Deshalb bin ich stolz auf meinen Schweizer Pass. Und ebenso gibt es eine miefige, piefige, kleingeistige und bornierte Schweiz. Das ist die «Schweizermacher»-Schweiz, wenn Sie so wollen, und die gibt es ebensolange. Diese Unterscheidung hat nichts mit «links» oder «rechts» zu tun. Oder mit «Ostschweiz» und «Westschweiz». Sondern mit geistigen Horizonten. Und diese beiden Systeme existieren nebeneinander und sitzen sich gegenüber wie auf einer Schaukel: Mal ist das eine Lager obenauf, mal das andere. Fortschritt ist das nicht. Natürlich ist Fortschritt mit Blick auf die Geschichte ohnehin ein heikles Konzept. Jedenfalls aber muss man mit Blick auf die gesellschaftliche Stimmung derzeit feststellen, dass es in unserer schönen Schweiz auch schon mal liberaler und offener und emanzipationsfreudiger zuging als heute. Demnächst erwarten uns dann die Abstimmungen über die Ecopop-Initiative und die sogenannte Familieninitiative der CVP, die eine diskriminierende, religiös fundamentierte Ehedefinition in die Verfassung aufnehmen will. Und vielleicht gestatten Sie mir als zutiefst bürgerlichem Individuum an dieser Stelle die Frage: Warum eigentlich hat eine Stimmbeteiligung von knapp 56 Prozent als «Top-Wert» zu gelten? Hm? Wer seine Stimme nicht abgibt, wird auch nicht gezählt.
Und nun was ganz anderes: Wussten Sie, meine Damen und Herren, welches Land mehr Schönheitsköniginnen als jedes andere hervorbringt? Nein, nicht die Schweiz. Auch nicht Schweden. Oder die Vereinigten Staaten. Sondern: Venezuela. Unlängst lief auf der BBC die Dokumentation «Extreme Beauty Queens: Secrets of South America». Ich darf für mich in Anspruch nehmen, auf dem Gebiet der mutmasslich schönheitserhaltenden oder -fördernden Massnahmen einigermassen abgebrüht zu sein: Ich habe die Effekte von Dimpleplasty gesehen und die Statements von Damen gehört, die ihre Füsse mit Hyaluroninjektionen polstern lassen, damit sie besser hochhakige Schuhe tragen können. Doch Venezuelas ganz eigener Osmel Sousa, selbst ernannter «Tsar of Beauty» und Chef der Miss-Venezuela-Organisation, liess auch mir für einen Augenblick die Kinnlade runterklappen. Ebenso wie jene Teilnehmerin an seinem Wettbewerb, die sich ein Plastikstück auf ihre Zunge hatte nähen lassen, was ihr die Nahrungsaufnahme so unangenehm machte, dass sie sich nur noch flüssig ernährte und ganz fabelhaft abnahm. Ohnmachten sind offenbar an der Tagesordnung, bei der Miss Venezuela.
Nun könnte man sagen: Das ist eine andere Kultur. Die kulturellen Parameter sind andere. Was zweifellos richtig ist. Schönheitsideale und Körpernormen sind in der Tat nicht zuletzt ein kulturelles Phänomen. Als ich letzthin über Indonesien im Flugzeug sass, fiel mir die «Wellbeing»-Beilage der «Jakarta Post» in die Hände, in der unter der Überschrift «Quick Fixers» ein Deodorant aus der Whitening-Serie von Dove angepriesen wurde. Siehe Bild oben. Zwar ging es hier nur um ein Deodorant, nicht um einen Hautaufheller im traditionellen Sinne (auch von Nivea zum Beispiel gibt es für den aussereuropäischen Markt diverse Crèmes und Lotionen mit angepriesener aufhellender Wirkung, sogar für Männer). Doch die Tatsache, dass man als spätmodernes westliches Wesen zuerst mal leicht zusammenschauert, wenn man Whitening liest, zeigt ja eben, wie sehr kulturell konditioniert nicht nur die Vorstellung von Schönheit, sondern auch das Nachdenken über Schönheitsnormen ist. Kein Mensch findet in unseren Graden Bräunungs- und Tönungsprodukte anstössig (höchstens aus rein ästhetischen Gründen), mit denen weisse Menschen ihre Haut dunkler machen, weil sie das attraktiv finden. Doch wenn dunklerhäutige Menschen ihre Haut aufhellen, weil sie das attraktiv finden, hält dies der aufgeklärte postindustrielle Betrachter tendenziell für bedenklich, weil sich hier eine Unterdrückungsgeschichte und die Übernahme oktroyierter Körperideale zu spiegeln scheint. Oder ist das in sich selbst schon wieder eine kulturchauvinistische Unterstellung? So wie die automatische Annahme, dass Schweden mehr Beauty Queens hervorbringe als Polen?
10 Kommentare zu «Der Preis der Schönheit»
tja nun. jede kultur möchte das, was sie nicht hat. ich nenne es „das hans-dampf-syndrom“. und es beginnt gleich bei mir. ich möchte dunklere haut – möglichst ohne solarium. jawoll. ausserdem möchte ich gerne in den schottischen highlands leben, obwohl dort die lebenserwartung für mich wohl nur sehr kurz sein würde.
Wenn ich das richtig einschätze geht es beim Deodorant mit aufhellender Funktion darum, die Haut unter den Achselhöhlen aufzuhellen, die oft dunkler ausfällt als der Rest. Also nicht per se um eine Aufhellung der ganzen Haut, sondern ebendieser Stelle. Lilly Singh (Superwoman auf youtube.com) hat zu diesem vermeintlichen „Leiden/Makel“ auch schon ihren Kommentar abgegeben… Stichwort: Dark Armits Swag On http://www.youtube.com/watch?v=nSWfwcJijhw
Nun ist den meisten Leuten einfach nicht klar, daß sie, wie alle anderen auch, verpflichtet sind auszusterben. Wenn man diesen Satz begreift, lebt es sich viel besser. Aber man kann den Souverän in einer, na ja, Demokratie aber nicht zwingen, über den Tellerrand hinaus zu schauen. Und bei den allermeisten Zeitgenossen hilft erklären nicht, sondern nur das Überreden. Sprechen sie mit den Leuten und sie erkennen, wie verblendet sie ihren Überzeugungen,
also anderer Leute gelungene Überredungen, folgen. Zum Troste für die unterlegenen Eidgenossen verweise ich hier nochmals auf meinen ersten Satz.
Ein Wort noch zu Ihrem ersten Paragrafen, Herr Tingler: da ich schon in sehr vielen Ländern auf dieser Erde gelebt habe (ausser: Südamerika, funnily enough!), weiss ich, dass in allen Kulturen Weltzugeneigtheit bzw Toleranz und auf der anderen Seite eine gewisse, vielleicht sogar natürliche, Xenophobie vorkommen. Ich empfehle im Moment, als Schweizer auf Sprachgenauigkeit zu bestehen und, statt sich vorauseilend zu entschuldigen, darauf hinzuweisen, dass wir keineswegs unsere Grenzen zumachen und uns abschotten werden, sondern die Zuwanderung einschränken!
Stimmt mich sehr nachdenklich, vor allem das von ihnen beschriebene in Venezuela….sind es doch WERTE und nicht Äußerlichkeiten die den Menschen so faszinierend machen….diese FALLE, alle sehen mich, bewundern mich und möchten wie ich sein ist das traurigste und einsamste aller Gefühle….