Alles well?

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Das neue Jahr hat frisch und wie ich hoffe für Sie angenehm begonnen, meine Damen und Herren, und einer der beliebtesten Vorsätze aus diesem Anlass, entweder um Mitternacht oder so ungefähr 18 Stunden später, wenn man verkatert in den Badezimmerspiegel starrt, zuhause bei jemanden, den man im alten Jahr noch gar nicht kannte, … wo war ich? Genau: Einer der beliebtesten Vorsätze zum neuen Jahr ist also der, vielleicht noch gesünder zu leben. Gesundheit wird seit jeher geschätzt, aber heute mehr denn je, und dies ist paradoxerweise vielleicht ein Kennzeichen des Umstandes, dass unsere Gesellschaft mehr und mehr Verhaltensweisen pathologisiert, die früher nicht als krankhaft galten (zum Beispiel, noch paradoxer, das drängende Bedürfnis, sich irgendwie «gesund» zu ernähren, dieses Krankheitsbild heisst: Orthorexie). Daraus folgt das Leitbild einer allumfassenden Gesundheit, für die in den Neunzigerjahren des letzten Jahrtausends, die ja zahlreiche entsetzliche Sachen in die Welt gesetzt haben, der Begriff «Wellness» geprägt wurde. Das Produkt auf obigem Foto, das ich in der Migros für Sie aufgenommen habe, mag als ein Musterbeispiel für Wellnessgeltungskonsum dienen.

Warum aber wollen wir alle gesund respektive «well» sein? Weil es anscheinend nichts Höheres mehr gibt. Weil uns ein korrumpierter Planet in diesen Zeiten durch den Raum dreht, eine arme gestauchte Kugel, wo jede Blume früh geknickt wird, doch der Unrat schwappt und wuchert … und darüber hinaus wird wahrscheinlich durch das private Frühstücksfernsehen, das vom Celebrity-Prekariat regiert wird, die Dummheit explosionsartig verbreitet und durch die distanzlose Hermetik der Gewalt von Computerspielen wie GTA eine Generation ultragewalttätiger Superkrimineller herangezüchtet … und: «Auch die Religionen als Thanatotechnik, die einem die Angst vor dem Tod nähmen und ein Gefühl der Dauer hervorbrächten, haben ausgedient.» Dies schreibt jedenfalls Byung-Chul Han, Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin, in seinen Ausführungen zur sogenannten Müdigkeitsgesellschaft. (Und mit Thanatotechnik meint er eine Technik, die dazu dient, den Tod abzuschaffen.) Ferner schreibt Han: «Die allgemeine Entnarrativisierung der Welt verstärkt das Gefühl der Vergänglichkeit.» Und: «Aufgrund der fehlenden narrativen Thanatotechnik entsteht der Zwang, dieses blosse Leben unbedingt gesund zu erhalten. Schon Nietzsche hat gesagt, dass nach dem Tod Gottes die Gesundheit sich zu einer Göttin erhebe. Wenn es einen Sinnhorizont gäbe, der über das nackte Leben hinausginge, würde sich die Gesundheit nicht dermassen verabsolutieren können.»

Naja. Nietzsche kann man schliesslich zu allem zitieren. Ich für meinen Teil beende diesen ersten Beitrag im neuen Jahr lieber mit einem Aperçu Alfred Polgars, das nicht nur auf Stilmittel, sondern auch auf Geisteshaltungen zutrifft: «Es gibt falschen und echten Schmuck. Den falschen erkennt man daran, dass er besonders kräftig funkelt.»

3 Kommentare zu «Alles well?»

  • Henry sagt:

    Na ja, die Vorsorge jedwelcher Art für das Jenseits im Diesseits durch einen Glauben schien überwunden werden zu können mit der Aufklärung. Aber wir sind wohl eher wieder auf dem Weg zurück, auf dem viele einfach nichts mit ihrem hiesigen Dasein anzufangen wissen und ihre Existenz durch irgendeinen Gott zu rechtfertigen versuchen, notfalls auch mit dem Gott des Konsums, des Klimawandels oder des Bio-Labels.

  • Irene feldmann sagt:

    Wer will schon ewig leben????

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