Verdirbt Autofahren den Charakter?

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Fahren Sie defensiv? Also ich nicht. Ich lernte vielmehr mit den Jahren als Tatsache zu akzeptieren, meine Damen und Herren, dass mein Lebensparadigma nun mal offenbar nicht «avoid & retreat» lautet, sondern eher: «attack & collide». Und so fahre ich auch Auto, ungefähr. Und zwar gern. Seit über 20 Jahren. Vielleicht aber war das der Grund für meine Eltern, mir jüngst zu meinem Geburtstag ein Büchlein zu übereignen, das den ganz leicht ermahnenden Titel führt: «So fährt man defensiv – 77 Beispiele in Wort und Bild». Ein historisches Büchlein ist das, ich habe es oben für Sie fotografiert, das Werk ist von 1967, älter als ich, und so ist auch seine Grafik und Aufmachung (die übrigens gerade zum Teil wieder chic sind). Sehen wir uns dieses Kompendium des guten Tons für die Strasse also einmal genauer an. Der Autor, ein Mensch namens F. Gert Pohle, ist inzwischen verstorben, war aber offenbar eine Ikone des Automobiljournalismus. Pohle schreibt: «Höflichkeit ehrt den Autofahrer. Wer höflich ist, fährt meist auch defensiv. Defensiv heisst nicht mehr und nicht weniger als dem anderen den Vortritt zu lassen, wenn es die allgemeine Verkehrssituation erfordert.» Zur Erklärung des Umstands, dass der steuernde Mensch im Auto eben bisweilen nicht defensiv, sondern aggressiv und gar rücksichtslos fahre, hat Herr Pohle folgende Spekulationen anzubieten: «Vielleicht, weil das Auto als Blechhülle ihn gegen seine Umwelt kontaktärmer macht. Vielleicht auch, weil der Mensch das Auto noch nicht an den gebührenden Platz in seinem Leben verwiesen hat.»

Deshalb wahrscheinlich betont Herr Pohle die Notwendigkeit, im Verkehr «mitzudenken», immer und immer wieder. Das hat mein Fahrlehrer auch gemacht. Der hiess Dieter und war Kettenraucher, wie alle Fahrlehrer, jedenfalls damals, 1989. Ich hatte Dieter ausgewählt, weil mir zu Ohren gekommen war, dass er eine etwas tollpatschige übergewichtige Tribade namens Tina, die mit mir zur Schule gegangen war, durch die Fahrprüfung gebracht hatte (damals wusste ich noch nicht, wie gut manche Tribade Auto fahren kann; jedenfalls mal sicher besser als ich; ein faszinierendes poststrukturalistisches Phänomen an der Peripherie der Performativitätstheorie zur Geschlechtskonstruktion, wofür sich allerdings 1989 noch so gut wie niemand interessierte – ebenso wie 1967. Oder heute). Dieter sass also neben mir in einem etwas abgetakelten Opel Kadett, während 40 Fahrstunden und 2 Prüfungen, und sein wesentlichster Beitrag zum defensiven Fahren bestand darin, dass er gelegentlich, ohne die Marlboro Rot zwischen den Lippen zu entfernen, vom Beifahrersitz aus nuschelte: «Nicht nervös werden!» Ich muss mal bei Google nachsehen, ob Dieter noch lebt.

Herr Pohle, F. Gert Pohle indes (von dem ich füglich vermute, dass er ebenfalls Kettenraucher war; denn sämtliche Automobiljournalisten alter Schule sind und waren Kettenraucher) stellt dann die Frage, die wir uns selbst oft stellen: «Verdirbt Autofahren den Charakter? Bedeutet der Druck auf das Gaspedal, dass gleichzeitig gewisse innere Bremsen gelockert werden? Haben wir das nötig, das Auto als eine Art soziales Aushängeschild zu betrachten?» Offenbar, ja. Immer noch. Bis heute. Herr Pohle selbst warnt vor «alten Kisten», und zwar wie folgt: «Vorsicht! Denen kommt es auf einen kleinen Blechschaden mehr nicht an.» Oder: «Alter Ami-Schlitten: Wird manchmal gern von Leuten gefahren, die es auch sonst nicht so genau nehmen.» Er warnt überdies vor Stofftieren im Heckfenster, vor Brillenträgern und vor Wagen mit «bunten, asymmetrisch angebrachten Streifen» (offenbar eine Vorform des Tuning), weil die zum Schnellfahren neigten. Sowie vor Wintermänteln: «Dicker Wintermantel, angeschnallt, brandneues Auto, Fahrer fuchtelt und redet intensiv: Nach aller Erfahrung ist er gutwillig, aber ungeübt.» Und zum Thema «Frauen am Steuer» zieht Herr Pohle, «da die Frau von Natur aus vorsichtiger und ängstlicher ist», das Fazit: «Vernünftig fahrende Frauen kennt jeder von uns. Nur – wir kennen davon zu wenige.» Insbesondere die Kohorte der lenkenden Seniorinnen muss schlechthin als gemeingefährlich betrachtet werden: Pohle warnt vor «älteren Damen mit den typischen Kaffeekränzchen-Hüten». Andererseits weiss er aber auch: «Vor allem junge Menschen überschätzen sich. … Junge Menschen halten sich mit der linken Hand an der Wagendachrinne fest, lassen einen Arm lässig aus dem Fenster baumeln oder ziehen mit dem rechten Arm ihre langhaarige Partnerin zu sich herüber.»

Dieses letzte Zitat ist wohl bezeichnend für die Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts mit ihren aufbrechenden sozialen Konflikten und ihrer eigentümlichen Mischung aus Korrumpiertheit, Obsoleszenz und Naivität. Heute wiederum stehen wir einmal mehr an der Schwelle einer Kulturwende: Die Konzepte von Mobilität ändern sich, und zwar dahingehend, dass insbesondere das Segment der 18- bis 25-Jährigen dem Automobilbesitz und -gebrauch zunehmend pragmatisch und nüchtern gegenübersteht. Fachleute sprechen von der Entemotionalisierung des Autos und meinen damit, dass heutzutage gerade in urbanen Ballungsräumen das Auto weniger als Statussymbol und Persönlichkeitsprothese gesehen wird denn schlicht als Fortbewegungsmittel, und zwar als eine Mobilitätsoption in einem ganzen Portfolio von Möglichkeiten, zu dem auch Konzepte wie Carsharing oder Pooling gehören. Diese neue Sicht auf das Auto beginnt gerade erst, sich auszubreiten – und wird, wie ich hinzufügen möchte, von mir nicht geteilt. Für mich haben Autos durchaus etwas mit Status, Symbolik und Persönlichkeit zu tun; dies ist, wenn Sie mich fragen, Teil des Vergnügens an der ganzen Sache; und damit zusammenhängend scheint es mir doch irgendwie eine bemerkenswerte Korrelation zu sein, dass zum Beispiel vermeintliche Ökoautos nie gut aussehen. Und auch die mutmassliche ökologische Wohlfeilheit ihres Antriebs ändert ja a priori bei Automobilen nichts daran, dass ansonsten sehr zivilisierte Menschen plötzlich in eine rohe Urnatur zurückfallen können, sobald sie hinter ihrem Lenkrad sitzen. Und deshalb finden sich, allem Elend und aller Miserabilität zum Trotz, schliesslich auch in jenem historischen Kompendium zur defensiven Fahrweise einige Einsichten von zeitloser Richtigkeit. Zum Beispiel: «Wir denken weniger an den Menschen im anderen Auto, sondern verbinden Mensch und Auto zu einem Ganzen.» Oder: «Je älter die ländlichen Radfahrer sind, umso weiter soll man sich von ihnen entfernt halten.» Oder, mein persönlicher Favorit: «Bei Nebel haben sich als Warnung kleine Feuer gut bewährt.» Und, endlich, ohne jeden Reif von Ironie: «Die vielen Erzieher unter uns Autofahrern sind die wahre Pest auf den Strassen.»

24 Kommentare zu «Verdirbt Autofahren den Charakter?»

  • Horst Grüning sagt:

    Ihrem Artikel und den bisherigen 4 Kommentaren habe ich wenig hinzu zu fügen. Insbesondere Werktags gegen 18:00 ist es einfach nur schlimm.

    Immer, wenn ich hier mit dem Velo unterwegs bin, denke ich wehmütig zurück an meine Jahre in Kobe (Japan) und Umgebung. Dort ist es Gesetz, dass der Velofahrer auf dem Trottoir fährt und dabei entsprechend seiner grösseren Durchschlagskraft volle Rücksicht auf die Fussgänger nimmt.

    Ich bin deshalb dafür, dass man es auch hier Velofahrern, die entsprechend rücksichtsvoll und langsam fahren wollen, erlaubt, auf dem Trottoir zu fahren.

  • SrdjanM sagt:

    Das Autofahren ist auch das Überwinden der eigenen Verletzlichkeit, Harmlosigkeit und Eingeschränktheit. Daraus resultiert dann die Aggression, und die Fehleinschätzung der eigenen Fähigkeiten.
    Für andere ist das Autofahren das notwendige Übel, welches nur überfordert, einschränkt und ängstigt. Daraus resultiert die Unsicherheit und die Fehleinschätzung der eigenen Fähigkeiten.

  • SrdjanM sagt:

    Das Auto ist eine wunderbare Maschine, es ist mehr als ein Fortbewegungswerkzeug.
    Ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Erwartung an die Mobilität, könnte man sagen.
    Und nicht zuletzt ist das schnelle, starke und neue (oder das kleine, sparsame und neue) Auto auch die sichtbarste Form der Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung.

    Und das erwähnte Buch, das würde ich auch gerne haben…

  • andi matata sagt:

    Ob Autofahren der Charakter verdirbt, weiss ich nicht. Aber was ich weiss, bei über 75% der AutofahrerInnen, wird mit dem Türen schliessen, auch das Hirn ausgeschaltet ………………………

  • Sven Lindner sagt:

    Wollte der Autor die 60er wirklich mit dem Stichwort Obsoleszenz beschreiben oder eher mit Obszönität? Denn dass die 60er heute „out“ sind konnte man in den 60er ja wohl noch nicht wissen.

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