«Manu sieht wieder horror aus heute!»

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Mein Zahnarzt hat mir neulich empfohlen, eine noch empfindliche neue Füllung vorübergehend mit einem schützenden Gel zu behandeln. Das steckt in einer Tube, meine Damen und Herren, auf der ein leidender Zahn abgebildet ist – so wie man sich den leidenden Zahn ungefähr 1965 vorstellte. Hitze und Kälte setzen ihm zu, sichtlich, und ausserdem scheint er, vielleicht aus Gründen des Anstands, ein Handtuch um die Zahnhüften zu tragen sowie, eventuell aus Gründen der Reinlichkeit, Putzhandschuhe und schliesslich, aus unerfindlichen Gründen, etwas in der Zahnhand, was aussieht wie ein Klumpen glühender Lava. Seis drum. Heutzutage erwirbt man in der Warenwelt bekanntlich nicht selten Seriosität durch anachronistisches Produktdesign, jedenfalls bei bestimmten Käuferschichten. Jede soziale Klasse unterhält ja nach Proust ihre eigenen Pathologien, und wenn die Upper Class sich dadurch auszeichnet, dass sie das Leben vor allem pragmatisch, also im Wesentlichen als Sport betrachtet, so werden die Sehnsüchte der Mittelklasse bis heute durch die Erlösungsvorstellungen von Aufstieg und Geltung (und neuerdings vom Jakobsweg) sowie von unendlichen technischen Möglichkeiten geprägt, deren schillernde Symbole wir überall zum Kauf angeboten sehen, geformt nach einem Mittelklassengeschmacksdogma, dessen Hauptrichtung nach Russell Lynes, dem Kunsthistoriker und legendären Herausgeber von «Harper’s Magazine», seit jeher darin besteht, so inoffensiv und charakterlos wie möglich aufzutreten. Damit verglichen ist der Zahn oben: Rock ’n’ Roll.

Und die untere Mittelklasse – sieht Vox. Das ist ein deutscher Privatfernsehkanal. Als wir neulich in Spanien waren, konnte ich mich umfänglich mit ihm vertraut machen. Auf Vox gibt es eigentlich nur Ramsch, und ein Teil davon ist eine Sendung namens «Shopping Queen», die zutreffenderweise also eigentlich «Ramsch Queen» heissen müsste, aber keine Sendung auf Vox trägt den Titel, den sie verdient. «Shopping Queen» ist so eine Art Wetteinkaufen von deutschen Hausfrauen aus der unteren Mittelklasse, die von Vox 500 Euro kriegen und sich damit kompetitiv neu einzukleiden haben, und zwar einem wechselnden Thema entsprechend, das jeweils von einem schwulen Provinzwesen ausgegeben wird, das wiederum entweder etwas zu gelbbraun geschminkt ist oder was mit der Leber hat und von Vox als «Star Designer» apostrophiert wird. Dieser Mensch, der die Homo-Bewegung um Jahre zurückwirft und offenbar gerade eine phänomenale Karriere in den Jurys des Privatfernsehens startet, versucht sich dann über die gesamte Sendung hinweg an lustigen Kommentaren zu den einkaufenden Kandidatinnen, die so ungefähr das Tresenniveau einer Homobar in Münster nach drei Proseccos erreichen. So auf der Linie von: «Manu sieht wieder horror aus heute!»

Das Problem ist hier weniger die Bildungsferne oder der Schlag ins Ordinäre. Das hat der Unterhaltsamkeit noch nie im Wege gestanden. Nö, das Problem ist, wie bei all dem Riffraff, den man heute im Fernsehen sieht: Humor- und vollkommene Charmelosigkeit. Und das macht die Schamlosigkeit unerträglich. Und die Geistlosigkeit der propagierten Geschmacksideale, die keinen Stil kennen, sondern nur «Style»; die nie von Qualität reden, immer bloss vom Aussehen. Sie wissen ja, meine Damen und Herren, für wie bedenklich und verdummend ich solche Formate halte. Hierin zeigt sich wieder die Vehemenz des Fortschritts in die Tiefe. Denn wir stecken bereits tief in der Dekadenz, Leser; die Künste liegen in voller Krise, das Sensationelle gilt, und nur einem strömt die sinkende Menge noch begeisterter zu, nämlich dem baren Unsinn. Kurz: Die Sendung ist eine Schande, und Richie und ich versäumten keine Folge. Und irgendwann frug ich den besten Ehemann von allen: «Wieso tut sich diese gelbbraune Shopping Queen eigentlich nicht mit dem noch dickeren Bartmädchen zusammen, das direkt anschliessend diesen Bräutewettkampf kommentiert? Dann könnten die beiden doch nach Gran Canaria auswandern und da ein Nagelstudio mit integriertem Bistro eröffnen, das sie Golden Moments nennen. Alles begleitet von Vox!»

15 Kommentare zu ««Manu sieht wieder horror aus heute!»»

  • Karl Knapp sagt:

    Gerade diese Woche habe ich gelesen, dass dem Fernsehen die Zuschauer wegbrechen. Niemand unter 30 schaut mehr zu (deshalb die Zwangsgebühren für diesen Schrott, den gar niemand wirklich sehen will). Da lob‘ ich mir doch diesen Blog, wo man unter den langen Tiraden (Atze Schröder, sag’ich doch…) solche Preziosen findet wie „Mittelklassengeschmacksdogma“…

  • Hans sagt:

    Herr Tingler bestätigt mir einmal mehr, dass die Abschaffung der Fernseher in unserem Haushalt eine gute Entscheidung war.

  • Bruno T. sagt:

    Genialer Blog von P. Tingler… Präzis auf den Punkt gebracht. Bravo!

  • Pascale Hartmann sagt:

    „Und irgendwann frug ich den besten Ehemann von allen“ Ich FRUG ? ? ? ? Das ist KEIN korrektes Deutsch, Herr Tingler

  • Reto Stadelman sagt:

    „Die Sendung ist eine Schande, und Richie und ich versäumten keine Folge. “ 😉
    Geniale Kritik gepaart mit Selbstironie vom Feinsten. Gefällt mir 😉

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