Völlig verloren

Wie wir alle wissen, ist Frau Merkel zurück. Ich meine, eigentlich war sie ja nie weg. Wiewohl man eventuell nicht mehr ganz sicher sein kann, ob sie immer noch die mächtigste Frau der Welt ist; zumindest habe ich neulich in der «International Herald Tribune» gelesen, dass «Vogue»-Chefin Anna Wintour im Condé-Nast-Verlagsimperium mächtiger und mächtiger werde, und der dies behandelnde Beitrag in der IHT endete mit dem schönen Bild: When you have a bejeweled hammer that has worked very well for 25 years, everything around you looks like a nail. Während über Frau Merkel in derselben Ausgabe der IHT unter der Überschrift «Merkel the Great» zu lesen stand: Perhaps it costs a lot of money to look this plain. Ja, perhaps. Ich möchte anfügen: Perhaps not. Egal. Das Fieseste stand natürlich in der TAZ über die Siegesfeier der CDU, die in der Wahlnacht Stimmung beweisen wollte, und zwar zu dem «komplett ironiefreien Stadion-Deutschrock» der Toten Hosen, namentlich dem Stück «Tage wie diese». «Die Toten Hosenanzüge» lautete eine andere Überschrift in der TAZ, die über den CDU-Auftritt schrieb: «Unrhythmisches Gehampel, Klatschen jenseits aller Takte und Beats, Bewegungsidiotie de luxe, der evangelikale Abtreibungsgegner Kauder, der enthemmt Campinos Text grölt, ohne sich an irgendein Metrum zu halten – und eine Kanzlerin, die aussah, als habe man das unbeliebte dicke Mädchen auf der Klassenfahrt erst betrunken gemacht und dann in der Dorfdisco auf die Bühne geschubst, auf der sie nun um ihr Leben und ihren Stolz tanzt.» Ziemlich fies. In der Tat blieb Frau Merkel ziemlich cool. Der coolste Moment war der, als sie sah, wie CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe aus der Menge eine kleine Deutschlandfahne gereicht wurde, mit der Gröhe schon übermütig wedeln wollte, worauf Mutti kurz missbilligend den Kopf schüttelte, Gröhe den Wimpel aus der Hand zog und zurück in die Menge gab. Selbst in diesem Moment dachte Frau Merkel daran, keine übermütigen Bilder zu produzieren. Das war ziemlich smart und professionell. Sie scheint nie die Übersicht zu verlieren. Oder doch? Es folgt eine kleine Liste von Phänomenen, die westliche Regierungschef in jüngerer Zeit verloren haben. Sehen Sie selbst …
- David Cameron: seine Tochter
Im Pub. Ausgerechnet. Sie kennen die Story.
- Barack Obama: die Sprache
Neulich in Kalifornien. Beziehungsweise sein Manuskript. Das war auch nicht wirklich verloren, nur einfach nicht da. Die Sprache verlor Obama deswegen nicht.
- François Hollande: die Orientierung
Auf dem Roten Teppich. Da war er noch ganz frisch im Geschäft. Nicht der Teppich; Hollande. Frau Merkel bugsierte ihn zurück auf Linie.
- George W. Bush: die Zurückhaltung
Auch hier war Frau Merkel involviert. Es dürfte einigermassen selten passieren, dass Männer in ihrer Gegenwart die Zurückhaltung verlieren. Besonders erfreut schien sie nicht.
- Angela Merkel: ausnahmsweise doch mal die Übersicht
Es kann tatsächlich passieren. Frau Merkel kann Berlin nicht finden. Zum Glück nur auf der Karte.
Bild oben: Angela Merkel zeigt François Hollande, wo es langgeht, 15. Mai 2012. (Keystone/Rainer Jensen)
7 Kommentare zu «Völlig verloren»
Na ja, de Gaulle oder Giscard d‘ Estaing hätte wohl niemandem die Tricolore aus der Hand gerissen. Ich will nicht falsch verstanden werden, Nationalstolz ist sicher der dümmste Stolz. Anderseits kann man niemandem so schmeicheln, wie wenn man seine Nation oder sein Land lobt, resp. die Eigenschaften derer. Mit Ausnahme von Deutschland natürlich.
Frau Merkel ist äussersti intelligent, unaufgeregt und souverän. Und zwar auch in den Lebenslagen, in denen ihre männlichen Gockel-Kollegen bereits Verstand, Fassung sowie Integrität abgelegt hätten.
Richtig!!
D’accord! Frau Merkel ist eine Ausnahmeerscheinung, auch unter den Politikern. Intelligent, pragmatisch und diplomatisch immer à jour. Sie verkörpert heutzutage das Popper’sche Prinzip: Leben ist Problemlösen; und das funktioniert am besten kritisch-rational.
Ich habe die Siegesfeier von Merkel & Co. zwar nicht gesehen (wahrscheinlich zu meinem Glück), aber bisher habe ich geglaubt, es gäbe wenigstens in #schland noch einen klitzekleinen Unterschied zwischen Wahlen und „Deutschland sucht die Supermutti“ …
Mit anderen Worten: Sie können zwar nicht mitreden, aber sie wollten ja auch nur ein bißchen überhebliche Häme ausschütten. Sie sind in der Schweiz – wenn auch nur dort – in bester Gesellschaft!
Frau Merkel mit Frau Wintour zu vergleichen, ist schon beinahe spassig. Frau Merkel trägt die Verantwortung für das grösste und wirtschaftsstärkste Land in der EU. Frau Wintour hingegen für ein paar Hochglanzmagazine. Da hinkte ein Vergleich schon – von Berufes wegen…
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