Starrende Unfreundlichkeit

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Ich nehme an, meine Damen und Herren, Sie kennen die Situation: Sie stehen auf einer Cocktailparty / an irgendeinem Buffet / in der Schlange vor dem Skilift / vor dem Kabelzug in Ihrem Gym – und unterhalten sich mit irgendjemandem darüber, wie ungerecht das indische Kastensystem ist, da nähert sich im indirekten Blickfeld jemand, den Sie von irgendeiner Buch-Vernissage / Party im Farm Club / Hundebeerdigung kennen. Die Person steuert auf Sie zu und erreicht die kritische Distanz von 300 Zentimetern: die Hallo-Distanz. Also sagen Sie Hallo in irgendeiner gesellschaftlich akzeptierten Form (Grusswort / kurzer Wink mit der Hand / Kopfnicken). Und die Antwort ist: nichts. Absolut nichts. Der/die Gegrüsste starrt durch Sie hindurch oder sieht plötzlich woanders hin, setzt eine Moai-Miene auf und bewegt sich weiter.

Swiss Blanking

Für dieses Ignorieren in Gesellschaft, dessen Peinlichkeit frappierend ist, gibt es in England, dem Mutterland der guten Form, einen speziellen Begriff: Blanking (von blank = leer; ausdruckslos). Jemand, der diese Unsitte praktiziert, ist also ein Blanker. Und um es gleich vorweg zu nehmen: Blanking ist immer unmanierlich. Natürlich passiert es, gerade in kleineren Städten wie beispielsweise Zürich, dann und wann, dass man Leuten über den Weg läuft, die man eigentlich lieber nicht treffen würde. Und, geben Sies zu: Auch Sie haben  schon mal solch eine unliebsame Bekanntschaft ignoriert, oder? Ich für meinen Teil kann sagen, dass ich im Laufe der Jahre eine perfekte Übung darin entwickelt habe, durch Leute hindurchzustarren. Heute könnte sich selbst, sagen wir, André Leon Talley vor mir aufstellen, und ich könnte mühelos durch ihn hindurchstarren. Aber eigentlich gehört sich das nicht. Selbst in Fällen von abgelegten Liebhabern, schwierigen Geschäftskontakten oder notorischen Motormündern ist ein kurzes Hallo plus eine freundliche Plattitüde immer die zivilisiertere Lösung.

Wenn man gesellschaftlich einigermassen aktiv ist, passiert es einem natürlich auch dann und wann, dass man Leuten über den Weg läuft, deren Namen man vergessen hat. Aber man muss nicht wissen, wie jemand heisst, um ihn zu grüssen. Ich habe mich zum Beispiel neulich etwa fünf Minuten lang mit einem fürchterlichen Lifestyle-Journalisten unterhalten, ohne mich im geringsten an dessen Namen erinnern zu können. Fünf Minuten können eine Ewigkeit sein. Die ganze Hindenburg ist abgebrannt in fünf Minuten. Dann hat mir dieser Mensch auch noch seine Ehefrau vorgestellt. Die Gattin sagte dabei keinen richtigen Ton und starrte durch mich hindurch. Sie ignorierte mich, während sie mir vorgestellt wurde. Das ist natürlich sehr unbeholfen. Indessen gibt es wahre Meister-Blanker, die es aufgrund jahrelanger Abstumpfung etwa vermögen, auch auf der kleinsten Dinner-Party ihren Tischnachbarn kunstvoll zu ignorieren, während sie gleichzeitig zur anderen Seite hin die herzlichste Konversation unterhalten.

Auch folgender Fall kommt nicht selten vor: Die eine Hälfte eines Paares wird von einem Blanker ignoriert, die andere begrüsst. Darüber hinaus gibt es Leute, die andere nur ignorieren, wenn sie selbst nüchtern sind. Und solche, die nie zuerst grüssen, sondern nur zurückgrüssen. Und jene, die einen zum Beispiel in einem Nachtclub nicht mehr zu kennen scheinen, obschon man sich gerade vier Stunden vorher mit ihnen auf einem Botschaftsempfang auf das Angeregteste unterhalten hat (sogenanntes Offshore Blanking). Und schliesslich existieren, besonders in der Welt der Medien, Figuren, die einen bloss dann ignorieren, wenn sie in vermeintlich wichtigerer Begleitung sind. Diese besonders bornierte Abart ist auch bekannt als Investment Blanking.

Drohstarren

Früher, als Unnahbarkeit noch zur Berühmtheit gehörte, war das Blanking ein geradezu überlebensnotwendiges Verhaltensmuster für grosse Prominenz. Jacqueline Kennedy Onassis, von der überliefert ist, dass sie das Durch-Dich-Hindurchstarren zur Vollendung brachte, hätte sich ohne diese Technik überhaupt nicht im öffentlichen Raum bewegen können. Wenn man aufdringliche Bewunderer nicht zu sehen vorgibt, existieren sie ja quasi gar nicht. Und heutige Allerwelts-Blanker mögen sich vielleicht ein bisschen besonders vorkommen, wenn sie grusslos weiter eilen, auch wenn niemand auf sie wartet. Jedesmal, wenn sie gegrüsst werden, aber nicht zurückgrüssen, fühlen sie vielleicht einen kleinen Schauer der Überlegenheit. Das ist ziemlich pathetisch. Noch pathetischer allerdings sind Zeitgenossen, die wortloses Starren als eine Form der Kontaktaufnahme, ja gar des Flirts, also im Grunde der Wertschätzung begreifen, indem sie zuerst die Augen an einem rauf und runter wandern lassen wie Scheinwerfer (fachsprachlich: once-over) und dann einen stieren Tunnelblick auf einen richten. Mir fällt dazu folgendes Stichwort ein: Drohstarren. Das Drohstarren ist eine archaische Verhaltensweise, herstammend aus einem primitiven Stadium der Evolution, vor der endgültigen Erhebung des Menschen aus dem Tierischen, von dem bei ihm viel geblieben ist. Eventuell handelt es sich um ein Überbleibsel aus der Brautwerbung bei den Neandertalern, etwa auf dem gleichen Niveau wie Beschnüffeln und Ablecken (gleichfalls bis heute praktiziert und, sofern unter consenting adults ausgeübt, sexualethisch nicht zu beanstanden). Die Technik des Drohstarrens ist also besonders interessant für solche Beobachter, welche die rohe Natur gerne ausspähen, die unter der Zucht der Menschen gemeiniglich sehr unkenntlich wird – oder werden sollte. Hier nun ein Hinweis: Drohstarren ist nicht Flirten, mit welchem es, namentlich im deutschen Sprachraum, offenbar oft verwechselt wird. Vielmehr sind die drei Grundelemente eines erfolgreichen Flirts immer noch die, die wir nicht erst seit Shelley Darlingson kennen: 1. Eye Contact. 2. Flattery. 3. Lots of Touching.

«It isn’t etiquette», schrieb Lewis Carroll, «to cut anyone you’ve been introduced to.» Und das ist wahr. Sehr wahrscheinlich aber ist es weniger Pseudo-Hochmut oder Bösartigkeit oder Feindseligkeit, was Blanking inspiriert, als vielmehr die übliche Ursachenkombination für schlechtes Benehmen: eine Kombination aus Trägheit, Unsicherheit, Blindheit, Geistesabwesenheit und Unbildung. Das ist eine Erklärung, aber keine Entschuldigung. Blanking ist eine Art des sozialen Totstellens, das stumme Armutszeugnis der Abgestumpften, der sinnlos Bornierten und Verklemmten. Es ist peinlich für jeden und beeindruckt niemanden. Es ist asozial und etwa so soziopathisch wie andere Leute mit Nadeln zu pieken. Zum Glück aber gilt auch hier, wie in den meisten menschlichen Beziehungen, der alte Mechanismus der perversen Reziprozität: Die meisten Leute grüssen umso freundlicher, je eher man sie ignoriert.

Im Bild oben: Cocktail-Party-Szene aus der Serie «Mad Men». (Foto: Lionsgate)

26 Kommentare zu «Starrende Unfreundlichkeit»

  • An sagt:

    Gewisse Leute sollten sihc nicht so wichtig nehmen und halt einfach grüssen.
    Ich laufe grundsätzlich einfach nicht sehr aufmerksam durch die Gegend, zudem sehe ich nicht so gut. Wenn mich die Leute nicht grüssen dann sehe ich sie halt nicht. Ist nicht extra, kein extra ‚blanking‘ oder was auch immer. das passiert einfach. Denn wenn ich gegrüsst werde, dann grüsse ich in der Regel zurück. Weil dann höre ich es ja.

    • Siobhan sagt:

      geht mir auch so, ich habe mir deshalb gerade eine Brille machen lassen, da es mir nun schon mehrere Male passiert ist, dass ich frisch kennengelernte Kollegen übersehe und nicht grüsse, was diese evt als eingebildetes ignorieren empfinden könnten. (bei den alten Kollegen/Freunde ist es ja egal. Die wissen, dass ich sie mag)
      Nach dem ich ein Hallo höre drehe ich mich zwar um und suche, aber meistens bin ich mit dem finden schon zu spät. Zudem gibt es auch die extrem scheuen Menschen mit der leisen Pipsstimme, die sich nicht trauen zu grüssen, da sie sich nicht über- sondern unterlegen fühlen!

  • julian sagt:

    Besonders nervig, die hierarchie blanker im büro.

    • Grace sagt:

      @julian: Kann ich nur bestätigen. Oder noch besser: Man kommt in ein Grossraumbüro, sagt laut „Grüezi mitenand“, und kein Schwein schaut auf.

  • Markus Schneider sagt:

    Dummes Zeug. Es gibt einfach zuviele Menschen, die man überhaupt nicht mögen muss und gar nicht kennenlernen will, egal wie oft sie an einem vorbeirauschen, einen grüssen oder einem vorgestellt werden. Die Geblankten sollen froh sein, dass Ihnen nicht schlimmeres geschieht, denn eigentlich sind sie schlicht unerwünscht – nichts anderes heisst das jemanden nicht Ansehen.

    • Siobhan sagt:

      what?? Wie kann man andere Menschen denn nur so doof finden. Ich habe in meinem 21 jährigen Leben noch keinen einzigen Menschen getroffen, der mir zu wenig wert ist, dass ich ihn nicht mal grüssen würde. Ich glaube eher sie sollten etwas mehr vergeben und höflicher sein, vielleich wäre ihr Leben plötzlich einiges freundlicher

    • Katharina I sagt:

      Siobhan, warten Sie mal ab, bis Sie doppelt so alt sind. Dann werden Sie jede Menge Leute kennen, mit denen Sie nichts zu tun haben wollen… 🙂 Womit ich nicht gesagt habe, dass ich doppelt so alt bin wie Sie. Und womit ich Sie auch nicht beleidigen wollte. Eigentlich finde ich Ihren Beitrag nämlich sympathisch. Mich hat das Alter etwas zynisch gemacht, was Sie mir hoffentlich vergeben können.

  • Katharina I sagt:

    Nachdem ich alle – ja, alle – Kommentare aufmerksam durchgelesen habe und sie alle interessant fand (wie auch den Text von Herrn Tingler), sage ich jetzt mal etwas Ketzerisches: Blanking ist eine Überlebensstrategie in überfüllten Lebensräumen. Es kann auch eine verquere Reaktion auf die dauernde Berieselung/Erreichbarkeit/Verbetzung sein in unserer Zeit. Und ausserdem: Ist doch wie in Hamburg, die sind halt so, die Schweizer. Eine vornehme Zurückhaltung, auch beim Grüssen, kann doch ganz angenehm sein. Ich grüsse meistens, kann den Nichtgrüssern aber auch meistens gut verzeihen.

  • michael sagt:

    hoffentlich versteht mich noch einer, wenn ich in meinem kommentar nicht so die geschliffenen englischen ausdrücke für alltägliches verwende. aber ich grüsse grundsätzlich nur jemand, den ich als grüssenswert empfinde. wenn ich mit ihm mal in einem lift zusammengestanden habe, gerne auch wiederholter massen, dann ist das noch lange kein grund jemanden zu grüssen oder zurückzugrüssen.

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