Intro gegen Extro?

Sie sehen hier (im blauen Kleid) die bezaubernde, weltbekannte englische Schauspielerin Joan Collins. Und zwar in einem Werbespot für einen weltbekannten Schokoladenriegel. Der läuft zurzeit im englischen Fernsehen. Das englische Fernsehen ist immer noch so viel besser als das deutschsprachige, das gilt auch für das Werbefernsehen. Englisches Fernsehen kann man ja glücklicherweise auch in der Schweiz sehen, mit der entsprechenden technischen Ausstattung, und als ich das letzte Mal Channel 4 geschaut habe (ich glaube, es war «The Fame Report» mit Pamela Stephenson), lief in der Werbepause ebendieser Spot mit Joan Collins, was ich sofort für Sie photographiert habe, liebes Publikum. Denn Joan Collins ist ja ein Phänomen: Sie ist inzwischen so ungefähr 80, sieht aber insgesamt noch genauso aus wie vor 30 Jahren, auf der Höhe ihres Ruhms, und wird immer noch gerne als Vamp besetzt. Man tritt Frau Collins gewiss nicht zu nahe, wenn man vermutungsweise davon ausgeht, sie sei, wie die allermeisten Schauspieler, ein eher extrovertierter Mensch. Und das bringt mich auf die amerikanische Autorin Susan Cain. Die vertritt in ihrem kürzlich erschienenen (und auch schon auf deutsch vorliegenden) Buch «Quiet: The Power of Introverts in a World that Can’t Stop Talking» die These, dass die westliche Wettbewerbsgesellschaft, die auf dem griechisch-römischen Ideal des eloquenten Menschen beruhe, eine kulturelle Verzerrung in Richtung extrovertierter Persönlichkeiten in sich trage.
Introvertierte Menschen gelten für kontaktgestört
Diese kulturelle Dominanz, die Cain «The Extrovert Ideal» nennt, also die allgegenwärtige Vorstellung, das ideale Selbst sei forsch, kontaktfreudig und tatendurstig, ist laut Cain das Fundament unseres Bildungssystems, unserer Geschäftskultur – und nicht zuletzt auch der medialen Besessenheit mit dem Konzept von «Celebrity». Cain sieht hier eine Betonung von «Persönlichkeit» anstellte von «Charakter», die zur Folge hat, dass wir auf die Schätze der Introvertierten verzichten, jener leisen, sorgfältigen, kontemplativen Denker unter uns, die weniger äussere Stimulanzien für ihr Wohlbefinden brauchen, sondern eine innere Welt. Introvertierte Menschen gelten leicht für kontaktgestörte Sonderlinge oder misanthrope Soziopathen, dabei sind sie einfach bedächtiger und empfindsamer, auch weniger risikofreudig und zweifelnder, weniger motiviert durch Anreize und Belohungen wie Ruhm und Geld. Während in früheren Epochen gerade auch der Besonnene und Geduldige hohes Ansehen genoss, scheint die moderne Gesellschaft den lauten und nicht selten scheinhaften Selbstdarsteller, den bereits Erich Fromm als «Marketing-Charakter» analysiert hat, höher zu bewerten als Substanz und Authentizität.
Grosse Kulturleistungen seien von introvertierten Menschen erbracht worden, schreibt indes Frau Cain, die betont, dass zwischen Eloquenz oder Intelligenz und Kreativität keine Korrelation bestünde. Ohne stille Geduld, Forscherdrang, Konzentration und Empathie der Introvertierten könnten wir uns weder an Van Goghs «Sonnenblumen» erfreuen noch an Einsteins Relativitätstheorie. Noch hätten wir die Digitale Revolution erlebt oder Harry Potter. Und sogar auf dem Gebiet von Hochfinanz, Politik und Aktivismus seien Meilensteine von Introvertierten gesetzt worden; Frau Cain nennt unter anderem Al Gore, Warren Buffett, Eleanor Roosevelt und Gandhi, die das, was sie erreicht hätten, nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Introvertiertheit zustandebrachten. Ohh, wie wunderbar. Und, ughm, Moment mal … Kein Harry Potter? Das klingt doch gar nicht so schlecht! Vielleicht ist ja das Problem, dass Susan Cain, bekennende Introvertierte, in ihrer Analyse manchmal genau jener narzisstischen Selbstbesessenheit anheimfällt, die sie den Extrovertierten attestiert. Und ein weiteres Problem in diesem Schwarz-Weiss-Weltbild dürfte darinnen liegen, dass nicht wenige Menschen das sind, was man «ambivertiert» nennt. Noch nie gehört? Wahrscheinlich, weil es einfach die Normalität beschreibt: Ein ambivertierter Mensch ist gerne mal vor der Tür und fühlt sich wohl in Gesellschaft, geniesst aber genauso seine Zeit mit sich selbst und seinen Gedanken. Das ist das eine. Und darüber hinaus möchte ich anmerken: Auch stille Wasser können flach sein. Oder trübe. Mit anderen Worten: Wenn ich die Wahl hätte zwischen Joan Collins oder Al Gore – ich zögerte keine Sekunde!
20 Kommentare zu «Intro gegen Extro?»
Seit wann ist Al Gore introvertiert.
Susan Cains Kernbotschaft ist absolut richtig! Wird jemand als introvertiert bezeichnet, so ist das nie positiv gemeint, sondern immer neutral bis zuweilen sehr negativ. Extrovertiertheit wird dagegen neutral bis sehr positiv gesehen, niemals negativ.
Wie es nun genau mit den Kulturleistungen aussieht sei mal dahingestellt. Klar ist aber, dass wir zu oft den Dreck von Selbstdarstellern wegräumen müssen (Bankenkrise), während die stillen Tüftler viel zu unserem Fortschritt beitragen. Die negative Wertung der Introvertiertheit ist damit nicht gerechtfertigt.
Genau am 23. Mai 2013 wird Joan Collins 80 Jahre alt (siehe http://www.imdb.com).
Ein gutes Thema: Der grosse Unterschied zwischen der klassischen Musik und der pop(ulären) Musik heutiger Zeit ist genau jener des Artikels: bei der klassischen Musik muss der Zuhörer sich auf die Kontemplation einstellen. Wenn ihm dies gelingt, kommt er deshalb am Schluss des Konzertes oder Oper innerlich bereichert wieder heraus. Die Pop-Musik jedoch erfordert geradezu ein ‚ausser-sich-Sein‘, ein in Exstase sein, welches oft mit Party Drogen wie Exstasy, wie der Name es sagt, konsumiert wird; ein ausser sich-Sein, welches danach mit Leere und Depressionen bezahlt wird! But Exstasy/Sex sells!
Den Introvertierten ist es egal wenn der grössere, extrovertierte Teil der Welt sie nicht mag, da ja wie geschrieben ihre Belohnung nicht auf Ruhm und Geld basiert.