Soziale Normen

Es ist Sommerzeit, und in den Sommer fällt mein Geburtstag, und ich liebe meinen Geburtstag. Neuerdings ist es ja irgendwie so ein bisschen schick geworden, dass man sagt: «Geburtstag? Ach, nein, darum will ich lieber gar kein Aufhebens!» (Das ist wahrscheinlich die logische Fortsetzung jener Einstellung, die Weihnachten zu kommerziell findet.) Nun, so was hört man von mir nicht! Bisher sind meine Geburtstagsfeierlichkeiten nur ein einziges Mal ausgefallen, und zwar im Jahre 2002, als am Vorabend meines Wiegenfestes plötzlich und unerwartet unser Fernseher seinen Geist aufgab, worauf ich Richie, dem besten Ehemann von allen, erklärte: «Kleines, wir sagen für morgen alles ab und gehen einen Fernseher kaufen! Denn ohne Fernseher will ich gar kein weiteres Jahr auf diesem gestauchten Planeten verbringen!»
Zu einem richtigen Geburtstag gehören Geschenke. Seltsamerweise jedoch gibt es Menschen, zum Beispiel meinen besten Freund Oliver, die mich seit Jahren gut kennen, aber nie eine Ahnung haben, was sie mir schenken sollen. Dies kann unmöglich daran liegen, dass ich irgendwie schwierig wäre. Im Gegenteil: Ich freue mich über einen neuen dunkelblauen Fünfer-BMW genauso wie über einen sprechenden Mr.-T-Schlüsselanhänger. Jedes Jahr aber versucht Oliver durchzusetzen, dass wir uns zum Geburtstag nichts schenken, und jedes Mal scheitert er, denn er hat vor mir Geburtstag. Also schenke ich ihm was, worauf er mir dann also auch was schenken muss. Das nennt man Reziprozität – eine wichtige soziale Norm, nicht nur im westlichen Kulturkreis. Jedes Jahr fragt Oliver mich dann, was ich haben möchte, und jedes Mal antworte ich: «Oliver! Das Wesen des Schenkens besteht darin, sich in den anderen hineinzuversetzen! Ich weiss, dass es keine ideale Welt ist, in der wir leben: Die Kardashians sind immer noch im Fernsehen, Jennifer Aniston ist immer noch unklar, wo sie mit ihren unnützen Haarsträhnen hin soll, und Süchtige werden nach wie vor betrügen und stehlen, um an ihren Stoff zu kommen … aber wir können das Leben auf diesem armen eirigen Planeten ein bisschen besser machen, Oliver, indem wir versuchen, uns in den anderen hineinzuversetzen! Oder schenk’ mir einfach einen Bildband von Bruce Weber.» Anschliessend kriege ich dann von Oliver einen Bildband von Bruce Weber.
Allerdings muss ich gestehen, dass es mir in letzter Zeit selbst immer häufiger passiert, dass ich nicht mehr weiss, was ich guten alten Freunden schenken soll. Ich grüble und grüble – und dann kaufe ich eine Nudelzange oder einen elektrischen Nageltrockner. Das Problem lässt sich leicht erklären: Je länger man die Leute kennt, desto mehr besitzen sie. Das wäre jedenfalls die Erklärung, wenn ich von mir auf andere schlösse, denn Richie und ich haben inzwischen so viele Sachen angehäuft, dass wir einen guten Teil davon nach der Anschaffung noch nicht mal ausgepackt haben, zum Beispiel den vollautomatischen Reiskocher oder diese Ralph-Lauren-Bettwäsche in Violett.
Und da kam mir der Gedanke, beide Probleme gleichzeitig zu lösen! Indem wir den überflüssigen Besitz in Geschenke umwandeln! Die Regel heisst ja eigentlich, dass man stets das verschenken soll, was man am liebsten selbst behalten möchte. In meinem Fall aber war es bisher immer so, dass erstens viele Leute das, was ich am liebsten selbst behalten würde, überhaupt nicht interessiert (zum Beispiel ein sprechender Mr.-T-Schlüsselanhänger). Zweitens pflege ich die Dinge, die ich am liebsten selbst behalten würde, in der Regel tatsächlich selbst zu behalten. Also verschenke ich von nun an einfach das, was ich nun doch nicht am liebsten selbst behalten möchte! Vorausgesetzt es ist noch originalverpackt und passt zum Beschenkten mindestens so gut wie eine Nudelzange. Ein fabelhafter Plan, wie ich fand. Richie war trotzdem nicht begeistert, als ich ihm erklärte: «Wir schenken Oliver zum Geburtstag einfach diese lilafarbene Ralph-Lauren-Bettwäsche, die wir neulich im Vorbeigehen bei Harvey Nichols gekauft haben, als wir noch ganz benommen von der Kraken-Verkostung in der Lebensmittelabteilung waren! Was hältst du davon?»
«King of bad ideas», erwiderte der beste Ehemann von allen.
Aber wir hatten ja zusätzlich noch die speziell für Oliver ausgewählten, gravierten Tennisbälle aus dem Gift Shop des Beverly Hills Hotels. Das nennt man Paketlösung: Man kombiniert ein attraktives Geschenk mit einer Sache, die man eher loswerden will. Das Paketieren ist eine wichtige soziale Norm im westlichen Kulturkreis. Und das Ergebnis unseres kleinen Experiments? Oliver freute sich über die lila Bettwäsche genauso wie über die für ihn persönlich ausgesuchten Tennisbälle. Oder hat er nur so getan? Schwer zu sagen, denn Oliver ist ein höflicher Mensch, und da jeder von uns das Geschenkproblem kennt, ist es im westlichen Kulturkreis eine wichtige soziale Norm, dass man eine freudig überraschte Miene herstellt, nachdem man ein Präsent ausgepackt hat. Selbst wenn es sich um etwas handelt, was man weder braucht noch will. Beispielsweise einen elektrischen Nageltrockner.
Im Bild oben: Panda Bath freut sich mit freudig überraschter Miene über ihren Kuchen zum 30. Geburtstag.
8 Kommentare zu «Soziale Normen»
Wenn man die jeweilig zu Beschenkenden gut kennt, ist es ein leichtes Freude zu bereiten. Ich sammle schon während des laufenden Jahres alles was ich sehe und für ein erfreuliches Geschenk hALTE. WENN MAN DEN MENSCHEN GUT ZUHÖRT KANN MAN wÜNSCHE UND KLEINE FREUDEN IMMER WIEDER HERAUSHÖREN. uND EINFACH GESCHENKE MACHEN, DAMIT MAN GUT DASTEHT ODER SICH IRGEND WELCHE VORTEILE DARAUS ERGEBEN SOLLTE MAN TUNLICHST UNTERLASSEN – DIE GEHEN MEIST SCHIEF UND MACHEN NIEMANDEM FREUDE; WEDER DEM BESCHENKTEN NOCH DEM SCHENKENDEN!
Genau; einfach etwas auf die Leute eingehen, und man merkt schon, was die brauchen koennten. Beispielsweise ein Keyboard, bei dem die CAPS LOCK Taste nicht klemmt ;(
So süss… Aber eingesperrte Pandas sind ein Elend auf dieser Welt.
Es stresst mich, immer wieder mit den Geburis. Ich darf sie a) nicht vergessen, und sollte b) immer etwas besonders tolles dabeihaben. Da ich in einem kreativen Beruf arbeite wird das einfach erwartet. Und die Karte muss handgemacht und toll sein. Dazu habe ich selber an einem speziellen Tag Geburtstag, den vergisst ja niemand. Also, ich armes Opfer, was mache ich bloss? Tipps sind immer willkommen :-)!
Auswandern! Jeder versteht, dass nur noch postalisch kompatible Geschenke (nicht zu gross/schwer, nicht zerbrechlich, nicht explosiv, etc) moeglich sind, und dass ein persoenlicher Besuch nicht drinliegt, ist auch allen klar. Umgekehrt wird man am eigenen Fest nicht mehr mit unfoermigen und unerwuenschten Staubfaengern eingedeckt, und die Besuche von wohlmeinenden aber langweiligen Glueckwuenschern halten sich auch in Grenzen.
Lieber Herr Tingler
Ich kann gar nicht sagen wie sehr ich den Ausdruck „bester Ehemann von allen“ liebe! Danke für diesen Morgengrins-Auslöser!
Immer gern! Bleiben Sie dran, Lucia!
was eine gute ehefrau ist, lässt nix auf ihren mann kommen!