Das Ende der Linie

Ich weiss noch, wie ich, vor ungefähr zehntausend Jahren, einmal ein Interview mit der deutschen Modeschöpferin Jil Sander gelesen habe, die damals auf der Höhe ihres Ruhms stand. In jenem Interview erklärte Frau Sander unter anderem, sie würde einen Rolls Royce fahren, was ja eigentlich ein wenig exzessiv sei, jedoch, sie könne quasi nicht anders, denn schon die Türgriffe dieses Wagen wären ein Kunstwerk, vollendete Form. Und, was soll ich Ihnen sagen – inzwischen denke ich genauso. Jedenfalls in Bezug auf die Türgriffe unseres Autos. Sie sehen einen davon oben im Bild. Im Prinzip kann man den ganzen Wagen am Türgriff erkennen. Die Sache ist perfekt. Es geht nicht besser. Das Ende einer Linie. Und besagter Türgriff ist 32 Jahre alt.
Dann las ich kürzlich ein lesenswertes Buch, nämlich «The Ancient Guide to Modern Life», worinnen die Altphilologin Natalie Haynes den Versuch unternimmt, die Weisheit der Antike für unsere Zeit nutzbar zu machen. Auf ihrer leichten und unterhaltsamen Tour durch die Denker der Antike kommt Mrs. Haynes natürlich auch bei Platon vorbei. Bei der Platonischen Ideenlehre, genauergesagt. Die Platonische Idee (oder Form) bezeichnet ein wesenhaftes Urbild, einen seinsbegründenden Archetypus, der vor den Dingen und Handlungen liegt, die wir sehen und wahrnehmen. Die sinnlich erfassbaren Einzelphänomene sind quasi Konkretisierungen der Idee, notwendig unvollkommen. Die Ideen sind undingliche und bloss denkbare reine Einheiten; sie sind sozusagen die wahrhaften, allein der Vernunft zugänglichen idealisierten Formen der Phänomene (also der Gegenstandsklassen, Prinzipien, Verhaltensweisen), die wir real erleben. Die Idee der Sache existiert unabhängig von uns und von ihrer konkreten Füllung; der sichtbare Gegenstand ist nur immer ein unvollkommenes Abbild dieser perfekten Einheit. Damit verbunden ist Platons Wissens- und Erkenntnistheorie: Vor unserer Geburt haben unsere Seelen ein vollkommenes Verständnis der Formen, mit dem Auf-die-Welt-kommen verlieren wir dieses apriorische Wissen. Die Erkenntnis der Ideen kommt nach Platon dadurch zustande, dass wir uns an dieses vorgeburtliche Wissen erinnern: Lernen ist Erinnerung.
Und auch wenn diese Theorie des Wissenserwerbs ziemlich obsolet anmutet, so liegt dennoch etwas Bestrickendes im Platonischen Gedanken der Form – in den Worten von Natalie Haynes: «Visually, especially, Plato’s Forms can be irresisitible: we have all looked at a piece of furniture, an item of clothing, a longed-for painting or yearned-for shoe and known, utterly and completely, that it is the most perfect specimen of its kind. Indeed, marketing and advertising depend on precisely this part of our psyche. If we can be made to feel dissatisfied with what we have, we will spend our money on something new. So each new car, laptop or mobile phone has to be shinier, sleeker, slimmer … »
Mit anderen Worten: Nichts auf Erden kann die Schönheit und Vollendung der ätherischen idealen Form nachbilden – und wenn wir uns das bewusst machen, sind wir zwar etwas widerständiger gegen den Besitztrieb, das Verlangen nach dem Schönen, aber doch niemals ganz gefeit dagegen, denn der Hunger nach Perfektion liegt im Menschen und treibt ihn an. In dieser Verknüpfung antiker Weisheit mit dem scheinbar Trivialen und Materiellen liegt die Eleganz des Buches von Frau Haynes – auch wenn ich an dieser Stelle ein wenig anderer Meinung bin: Manchmal findet man auf Erden eben doch die perfekte Form, die nicht zu verbessern ist, ein Muster seiner Art, das vollendete Abbild und damit gewissermassen das Ende der Linie – und dann ist man zufrieden. Und glücklich. So wie Frau Sander mit dem Türgriff. Und ich auch.
4 Kommentare zu «Das Ende der Linie»
Immerhin wird jetzt ein bisserl klarer, weshalb Tingler letztes Mal 39 Franken und 3 Stunden für die Wagenwäsche brauchte. Aber zum aktuellen Thema: es gibt – wie immer – andere Ansichten: im Zen lernt man, Wertungen wegzulassen. Auch ein alter, verrosteter Türgriff eines 30jährigen R4 kann perfekt sein, jetzt, genau jetzt im Moment. Ich habe mal einen gebrauchten BMW gekauft; der Verkäufer sagte mir, der Wagen sei „perfekt“. Sprich, es funktioniert alles, auch der ganze digitale Schischi. Aber vielleicht ist Perfektion auch nur eine Worthülse ?
Jil Sander fährt Rolls Royce nur wegen dem perfekten Türgriff. Und ich lese den Blick nur wegen dem Sportteil 😉 Und ich habe über den Türgriff meines Volvo noch nie nachgedacht, aber gerade darum ist er perfekt für mich.
… um glücklich zu sein, braucht es einen bescheidenen Anspruch … oder: um unglücklich zu sein, braucht es ein gewisses Mass an Intelligenz …
Zur Ideenleher Platons ist wichtig zu wissen, dass die Idee schlussendlich nur mit der bewussten Seele erfasst werden kann. Für das körperliche bleibt der Pixelhaufen, genannt Materie.
so so, frau jil sander hat sich gedanken über den türgriff ihres autos gemacht. nebenbei bemerkt, sie fährt einen rolls… das ist dann schon eine betrachtung auf hohem niveau. aber es zeigt, das man auch kleinigkeiten eine gewisse schönheit abgewinnen kann. diese schönheit allerdings, und dazu muss ich nicht plato oder seine interpretation von hayes kennen, entsteht im auge des betrachters. für mich beispielsweise gibt es eine schönheit des codes, wenn ein software programm in optimal designed ist und mit kurzen knackigen befehlen eine komplexe aufgabe bewältigt.