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Bringt endlich den Video-Joker!

Thomas Renggli am Montag den 13. Dezember 2010
Haderten mit Schiedsrichter Alain Bieri: FCZ-Spieler Aegerter und Magnin.

Haderten mit Schiedsrichter Alain Bieri: FCZ-Spieler Aegerter und Magnin.

Seit 1966 hat sich auf der Welt das eine oder andere verändert. Die Menschheit ist auf dem Mond gelandet. Das Farbfernsehen hat sich etabliert. Das Internet wurde erfunden – und der hinterste Winkel der Welt kommunikationsmässig erschlossen. Alles und jeder kann heute durchleuchtet werden.

Nur eine Spezies tappt seit der Erfindung des Wembley-Tores im WM-Final 1966 unverändert im Dunkeln: diejenige der Fussball-Schiedsrichter.

Die Familie Yakin war davon am Samstag zweimal betroffen – negativ wie positiv. Murat, Trainer des FC Thun, musste nach einer Viertelstunde im Heimspiel gegen Bellinzona konsterniert zur Kenntnis nehmen, wie Schiedsrichter Hänni (nach Intervention des Linienrichters) den regulären Treffer zum 1:0 durch Timm Klose wegen angeblichen Offsides nicht anerkannte. Knapp anderthalb Stunden später profitierte Murats Bruder Hakan in Emmenbrücke von der akuten Sehschwäche des Linienrichters Walter Brosi und der Apathie der drei weiteren Regelhüter. Das Quartett übersah, dass beim Ausgleich durch Puljic gleich vier Luzerner abseits standen – meterweit. Wer die Fernsehbilder von dieser Szene nochmals ansieht, kann nur den Kopf schütteln. Unfassbar.

Gleich gruppenweise im Offside: FC-Luzern-Spieler kurz vor dem Ausgleich.

Gleich gruppenweise im Offside: FC-Luzern-Spieler kurz vor dem Ausgleich.

Die Falschurteile von Thun und Emmenbrücke sind allerdings nur zwei Beispiele der massiven Anhäufung von Schiedsrichterfehlern in der Super League in der ersten Saisonhälfte.

Das Problem ist international. Es kann nicht sein, dass sämtliche (Fernseh-)Zuschauer mehr und besser sehen, als die Hauptverantwortlichen auf dem Spielfeld – dass sich die Gralshüter der Fussball-Ethik standhaft dagegen wehren, der Moderne die Türen zu öffnen. Spättestens seit dem skandalösen Nicht-Tor der Engländer im WM-Achtelfinal gegen Deutschland, als der Ball nach einem Schuss von Lampard (mindestens) einen Meter hinter der Linie aufschlug, müsste sich diese Erkenntnis auch in der Fifa-Chefetage etabliert haben.

Mit fast schon missionarischem Eifer hat sich der Weltverband die Eroberung von neuen Märkten (Afrika, Russland, Katar) auf die Fahne geschrieben, vor den echten Problemen verschliesst er aber hartnäckig die Augen.

Wenn selbst die traditionellste aller traditionellen Profisportarten (Tennis) auf technische Hilfsmittel setzt, müsste auch im Fussball der Fortschritte allmählich akzeptiert werden.

Hier ein Vorschlag: Ein Video-Joker pro Halbzeit und Mannschaft – für Spiele in jenen Profiligen, in denen sämtliche Partien vom Fernsehen in befriedigendem Rahmen produziert werden. Allerdings nur in Spielsituationen, die unmittelbar zur Entstehung oder Verhinderung eines Tores führten.

Ein Einzelrichter schaut sich die Szene auf einem Bildschirm an. Kommt er innert einer reglementarisch festgesetzten Zeit (z. B. 60 Sekunden) zum Schluss, dass der Schiedsrichter zweifelsfrei danebenliegt, wird der Entscheid rückgängig gemacht. Die Mannschaft behält ihren Joker – wie im Tennis. Stellt sich das Schiedsrichterurteil als richtig heraus, geht das Spiel normal weiter und verfällt der Joker.

Das Argument, der Fussball lebe von menschlichen Fehlern und sich daraus ergebenden (Stammtisch-)Diskussionen ist reiner Selbstschutz der Verbandsoberen. So viele Stammtische, um die fast täglichen Fehlentscheide zu kommentieren, existieren gar nicht.

Was meinen Sie, geneigte Leser? Wäre es nicht endlich Zeit, den Fussball in ein neues Zeitalter zu führen – im Sinne der Fairness, aber auch im Sinne der Schiedsrichter und Zuschauer. Denn von einer gesteigerten Glaubwürdigkeit des Sports würden alle profitieren. Vor allem in der Schweiz, wo es um die Sehschärfe der Schieds- und Linienrichter besonders schlecht bestellt ist.

Mit diesem Beitrag verabschiedet sich der Blogger in die Weihnachtspause. Bis zu Beginn der zweiten Saisonphase werden die Steilpässe in reduziertem Rhythmus geschlagen. In diesem Sinn und Geist wünsche ich allen einen beschaulichen Advents und frohe Weihnachten.

Die Top 10 der ersten Saisonhälfte

Thomas Renggli am Samstag den 11. Dezember 2010
Belegen im «Steilpass»-Ranking die vorersten Plätze: Thorsten Fink, Ancillo Canepa, Hakan Yakin (v.l.).

Belegen im «Steilpass»-Ranking die vorersten Plätze: Thorsten Fink, Ancillo Canepa, Hakan Yakin (v.l.).

Mit der 18. Runde verabschiedet sich die Schweizer Fussball-Meisterschaft in die Winterpause. Weiter gehts am 5. Februar 2011. Höchste Zeit für eine vorweihnachtliche Bestandesaufnahme. Hier die Steilpass-Top-Ten der ersten Saisonhälfte.

1. Hakan Yakin. Der Basler Ballzauberer ist hauptverantwortlich für den Luzerner Höhenflug. Die Magie in seinen Füssen befördert den FCL zum Titelkandidaten. Nur Ottmar Hitzfeld will davon nichts wissen.

2. Thorsten Fink. Nach dem Double-Gewinn setzt der Deutsche auch im internationalen Geschäft starke Zeichen. Noch nie trat ein Schweizer Team in der Champions League so selbstbewusst und überzeugend auf wie der FCB in diesem Herbst.

3. Ancillo Canepa. Sein FCZ konnte sportlich nicht immer überzeugen. Neben dem Platz inspirierte Canepa aber zu einer Parforceleistung. Die Vereinschronik «Eine Stadt – ein Verein – eine Geschichte» ist ein publizistisches Meisterwerk.

4. Murat Yakin. An der Seitenlinie fast so erfolgreich wie früher auf dem Feld. Dank taktischem Geschick, klarer Spielphilosophie und einer optimalen Rollenverteilung machte er aus dem Aufsteiger Thun einen soliden Mittelfeldklub.

5. FC St. Gallen. Totgesagte leben länger. Knapp vor dem Konkurs zauberten die Ostschweizer über Nacht jene Millionen aus dem Ärmel, welche die Grasshoppers bis heute vergeblich suchen.

6. Alex Frei. Allen Unkenrufen zum Trotz: Der abtretende (?) Nationalmannschafts-Captain steht an der Spitze der Torschützenliste. Auch in diesem Blog ist er ein Garant für Produktivität. Die vier Beiträge über den Basler generierten 388 (druckreife) Kommentare.

7. Admir Mehmedi. Die grossen Schlagzeilen gehören dem FCB-Shootingstar Xherdan Shaqiri. National hinterlässt aber ein anderer 19-Jähriger die tieferen Spuren. FCZ-Talent Mehmedi ist bereits bei fünf Treffern angelangt.

8. Lausanne-Sport. National kämpft der Traditionsklub aus dem Waadtland um die Rückkehr in die Super League. Europäisch erinnert er schon jetzt wieder an die grossen Zeiten. Die Qualifikation des Challenge-League-Vertreters für die Gruppenphase der Europa League war die grösste (Schweizer) Sensation der ersten Saisonhälfte.

9. Rolf Fringer. Als der ehemalige Nationaltrainer vor zwei Jahren in Luzern die Nachfolge von Roberto Morinini antrat, war die Lage am Tabellenende schier aussichtslos. Heute ist der FCL ein Spitzenklub – dank Yakin und Fringer.

10. Ciriaco Sforza. «Alles wird gut. Die Jungen brauchen Zeit.» Die wöchentlichen GC-Bauchlandungen änderten an der Tonalität der Trainer-Kommentare nichts. Sforza verdient den Preis als konsequentester Schönredner der Super League.

Sehr geehrte Leser, ich gehe davon aus, dass Sie nicht in jedem Punkt gleicher Meinung sind – oder in überhaupt keinem… Wie sehen Ihre Top-Ten aus? Was war Ihr Highlight? Und wer hat Sie in den letzten fünfeinhalb Monaten am meisten enttäuscht?

Was bei den Schiedsrichtern falsch läuft

Thomas Renggli am Mittwoch den 8. Dezember 2010
Die Fussballschiedsrichter sollten sich die Kollegen vom Eishockey als Vorbild nehmen: Urs Meier, Dany Kurmann, Claudio Circhetta (v.l.).

Die Fussballschiedsrichter sollten sich die Kollegen vom Eishockey als Vorbild nehmen: Urs Meier, Dany Kurmann, Claudio Circhetta (v.l.).

«Die Schweizer Schiedsrichter brauchen den Profistatus». Urs Meier, Schiedsrichter-Chef für Super- und Challenge-League, sagt es bei jeder Gelegenheit. Er hat Recht: Wie soll man von den Unparteiischen konstant gute Leistungen erwarten, wenn sie ihr Pensum als Feierabend-Funktionäre und Hobby-Pfeifer verrichten? Die Trainingsbedingungen und Wettkampfvorbereitung sind die eine Seite. Noch wichtiger ist: Wer sein Fach im Vollberuf ausübt, geniesst von allen Beteiligten mehr Anerkennung und Respekt.

Die Crux an der Sache ist allerdings das Auftreten der Schweizer Schiedsrichter selbst. Auf wie neben dem Platz. Die Regelhüter scheinen sich in ihrem Amateurdasein äusserst wohl zu fühlen. Das beginnt bei Schiri-Boss Meier höchstpersönlich. Der Aargauer leistete sich am vergangenen Wochenende die Blauäugigkeit des Jahres – in einer Branche notabene, in der ohnehin alle alles besser sehen als die Schiedsrichter selbst.

Meier nominierte fürs Spitzenspiel Basel – YB seinen langjährigen Weggefährten Claudio Circhetta. Wohnort Reinach, Baselland. Grund: Circhetta wird per 1. Januar zum Chef des Schweizer Schiedsrichterwesens im Verband befördert und wünschte sich als Schlusspunkt seiner Aktivlaufbahn, endlich einmal ein Spiel des FCB pfeifen zu können.

Dass Circhetta prompt ein paar fragwürdige Entscheide zugunsten seiner Basler auslegte, kann als Zufall ausgelegt werden. Dass er und Meier diese Situation aber überhaupt zuliessen, mutet grotesk an. Wie sollen die Schweizer Schiedsrichter Fingerspitzengefühl entwickeln, wenn sich ihr Chefs wie die Elefanten im Porzellanladen aufführen – und in einer Mischung aus Ignoranz und Arroganz nicht bereit sind, Fehler einzugestehen?

Schiedsrichter sind in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit und der Medien überproportional oft die Sündenböcke und Buhmänner. Das mag ungerecht sein. Doch es liegt irgendwie in der Natur der Sache. Wer eine Parkbusse erhält, spendiert dem Polizisten kein Trinkgeld.

Davon betroffen war auch das Schweizer Eishockey – bis die Referees ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen, den Schritt aus dem verstaubten Kämmerchen machten und gegenüber Medien und Öffentlichkeit in die kommunikative Offensive gingen. Anstatt sich gegenseitig den Schwarzen Peter zuzuschieben wurde diskutiert und sensibilisiert. Mit Erfolg: Es entstand ein Klima des Respekts und des gegenseitigen Verständnisses. Fehlentscheide gehören zwar auch auf Glatteis zum Alltag, doch sie lösen nicht Woche für Woche eine grundsätzliche Debatte aus.

Der Eishockey-Verband beschäftigt seit den 1990-er Jahren Profischiedsrichter. Das Modell hat sich vollauf bewährt. Kein Hahn kräht danach, wenn der Zuger Danny Kurmann ein Spiel des EV Zug leitet – weil Kurmann auftritt und pfeift wie ein Profi. Weil er sich auf Augenhöhe mit den Spielern befindet.

Auch den Schweizer Fussballschiedsrichtern würde eine Professionalisierung vermutlich auf die Sprünge helfen. So lang sich ihre Chefs aber wie die grössten Amateure benehmen, kann daraus nichts werden…

Wie gut ist die Super League wirklich?

Thomas Renggli am Montag den 6. Dezember 2010
Man konnte kaum hinschauen: Fussballspiel FCZ gegen FC Thun gestern im Letzigrund.

Man konnte kaum hinschauen: Fussballspiel FCZ gegen FC Thun gestern im Letzigrund.

Die Kollegen vom «Blick» präsentierten in ihrer Samstag-Ausgabe eine interessante Statistik: In der Super League fallen durchschnittlich 3,23 Tore pro Spiel – mehr als in den fünf europäischen Top-Ligen. Am nächstem kommt der Schweizer Torfabrik die Bundesliga (3,21). In Spanien (2,75), England (2,72) und Frankreich (2,30) ist es um die Produktivität weniger gut bestellt. Die notorischen Betonmischer aus Italien (2,24) belegen selbstverständlich den letzten Platz.

Das Fazit dieser Statistik liegt auf der Hand: Die Super League ist die spektakulärste und beste Liga Europas.

Aus Zürcher Sicht gibt es allerdings aktuellen Anlass an dieser These zu zweifeln. Was der FCZ und die Grasshoppers am Wochenende gegen Thun und in Sion geboten haben, entsprach ziemlich exakt den Temperaturen: Es war deutlich unter dem Gefrierpunkt.

Existieren ohnehin nicht triftigere Gründe als die Treffsicherheit der Stürmer und die offensive Ausrichtung der Teams, weshalb in der Schweiz überproportional viele Tore fallen? Ist es nicht auch die wachsende Diskrepanz zwischen Reich und Arm, die das Leistungsgefälle immer stärker akzentuiert und deshalb hohe Resultate zum Alltag macht? Liegt es an den tendenziell schwach besetzten Defensivreihen? In der Innenverteidigung hat praktisch jeder Klub die grösste Baustelle zu beklagen – Double-Gewinner Basel eingeschlossen. Oder sind es die Schiedsrichter, die mit ihrem überbordenden Aktionismus die Tore (bzw. Penaltys) erfinden, aber bei Offside-Positionen sämtliche Augen zudrücken? Siehe St. Jakob-Park am Samstag.

Was denken Sie, liebe Leser? Wie gut ist die Super League? Hält sie dem Vergleich mit den europäischen Top-Ligen bezüglich Unterhaltungswert und Attraktivität tatsächlich stand? Oder ist besagte Statistik nur ein Trugbild? Ist es doch wie Winston Churchill einst feststellte? «Es gibt Lügen, es gibt verdammte Lügen, es gibt Statistiken. Ich glaube nur einer Statistik, die ich selber gefälscht habe!»

Jetzt muss Qatar eine ganze Nationalmannschaft einbürgern

Thomas Renggli am Freitag den 3. Dezember 2010

Jubel in Qatar: Das Emirat wird die Fussball-WM-Endrunde 2022 austragen. (Bild: Keystone/Epa)

Joseph S. Blatter ist der erfolgreichste Wegbereiter in der Geschichte des Fussballs. Der Walliser brachte die Weltmeisterschaft auf den afrikanischen Kontinent. Er ebnete dem grössten Sportanlass das Terrain in der russischen Unendlichkeit und in der arabischen Wüste. Vor allem die Vergabe der WM 2022 ins Golf-Emirat Qatar wird als Überraschung gewertet. Dabei ist sie absolut logisch.  Geld muss dort nicht erarbeitet werden. Es sprudelt aus dem Boden.

Auch sonst wird das Turnier in zwölf Jahren neue Massstäbe setzen: Alle Stadien liegen innerhalb von 25 km, künstliche Temperaturregulierung (ökologisch selbstverständlich völlig bedenkenlos) ist garantiert, die Zuschauer in den Hightech-Arenen können die Spiele auch in klimatisierten Logen via Bildschirm verfolgen  – und endlich darf man eine WM ohne betrunkene Fans erleben. Wie die Fifa dies ihrem Biersponsor Budweiser erklärt, bleibt abzuwarten.

Jene Skeptiker, die an der Wettkampftauglichkeit des Heimteams zweifeln, können sich beruhigt zurücklehnen. Das Emirat belegt im Fifa-Ranking unter 203 Nationen momentan zwar nur den 113. Platz. Doch das wird bis 2022 garantiert ändern. Geht es um sportliche Interessen, erweisen sich die katarischen Einbürgerungsbehörden als äusserst flexibel. Das berühmteste Beispiel kommt aus der Leichtathletik: Der Kenianer Stephen Cheron vollzog 2005 den unkomplizierten Frontenwechsel und gewann zwei Wochen später als Saif Saaeed Shaheen für Qatar den WM-Titel über 3000 m Steeple.

Gut möglich, dass in zwölf Jahren eine Auswahl von Exil-Brasilianern für das Emirat um den WM-Titel spielt. Es wäre ein weiterer wichtiger Schritt im Zuge der Globalisierung des Fussballs…

Die WM 2018 gehört nach England!

Thomas Renggli am Mittwoch den 1. Dezember 2010

Werben für die WM 2018: David Beckham und Wayne Rooney im Wembley Stadium (Bild: Reuters)

«Football is coming home» – hiess die Hymne zur Fussball-EM 1996 in England. Der Text der Komiker David Baddiel und Frank Skinner dokumentiert den Zwiespalt, in dem das Fussball-Mutterland seit dem Gewinn des WM-Titels 1966 steckt: «Thirty years of hurt. Never stopped me dreaming» («30 Jahre Schmerzen hinderten mich nicht am Träumen»). Auch im weiteren Verlauf des Liedes wird nichts beschönigt:  «We’re not creative enough; we’re not positive enough»  («wir sind nicht kreativ genug; wir sind nicht positiv genug») Oder: «we’ll go on getting bad results»  («wir werden weiter schlechte Resultate erzielen»).

Das Lied nahm den sportlichen Verlauf des Turniers vorweg – England scheiterte im Halbfinal gegen Deutschland im Penaltyschiessen – wie schon sechs Jahre zuvor an der WM in Italien. Die Rechnung für das Wembley-Tor kam drei Jahrzehnte später mit Zins und Zinseszinsen auf die englische Nation zurück. Und sie ist noch immer nicht abbezahlt – wie der Achtelfinal an der WM 2010 zeigte.

Feuriger Botschafter für sein Land: Englands Nationalspieler Wayne Rooney.

Feuriger Botschafter für sein Land: Englands Nationalspieler Wayne Rooney.

Trotzdem träumen die Engländer weiter – am Donnerstag in Zürich endlich wieder einmal von einem Finalsieg. Zwar nicht auf dem Rasen, sondern auf sportpolitischem Parket – im Rennen um das Austragungsrecht der WM-Endrunde 2018.

Historisch, moralisch und emotional gibt es keine Frag: England hat das Turnier verdient. Abgesehen von Spanien ist es das einzige grosse europäische Fussball-Land, das die Endrunde noch nicht zweimal durchführen durfte. Brasilien kommt in drei Jahren zum zweiten Mal zum Handkuss – und selbst die vergleichsweise unbedeutende Fussball-Nation Mexiko war schon zweimal WM-Veranstalter.

England überzeugt mit der perfekten Kandidatur: Herrliche Stadien, die grösstmögliche Verbundenheit mit dem Fussball, das beste Publikum, eine intakte Infrastruktur, kurze Wege.

Und dennoch ist der Zuschlag des Fifa-Exekutivkomitees am Donnerstag weit mehr als eine Formsache – weniger wegen der Auswirkungen der Korruptionsaffäre, sondern weil auch Russland um die Austragung des Turniers buhlt. Im grössten Land der Erde müssten zwar die meisten Stadien neu gebaut und die Infrastrukturen in vielen Städten totalerneuert werden. Doch in Russland genügt hierzu in der Regel ein Fingerschnippen von Wladimir Putin.

Der russische Premierminister ist der mächtigste Mann diesseits des Atlantiks – egal auf welcher Bühne er sich bewegt. Dies wurde bei der Vergabe der Olympischen Winterspiele 2014 deutlich. Am IOC-Kongress in Guatemala 2007 boxte Putin die russische Kandidatur Sotschi gegen die Konkurrenz aus Südkorea und Österreich fast im Alleingang durch. Unter anderem hielt er eine Rede auf Englisch – was für einen russischen Staatsmann schon fast einen Tabubruch darstellt. So könnten die Russen am Donnerstag in Zürich auch den Engländern einen dicken Strich durch die Rechnung machen. Wenn Wladimir Putin etwas will, kriegt er es auch…

Herr Linsi, wachen Sie auf!

Thomas Renggli am Montag den 29. November 2010

Betretene Grasshoppers, jubelnde Tessiner: Die 2:3-Niederlage von GC gegen Bellinzona löst nicht einmal mehr laute Reaktionen aus.

Kein Pfiff, kein Buhruf, kaum ein Fluch. Die 2:3-Niederlage der Grasshoppers gegen Bellinzona wurde von den (optimistisch gezählten) 3100 Zuschauern im Letzigrund mit fatalistischer Gleichgültigkeit zur Kenntnis genommen. Ciriaco Sforza lobt die Mannschaft für ihre Charakterleistung in der zweiten Halbzeit. Die Spieler trotten mit hängenden Köpfen vom Tatort. Immerhin Vero Salatic sprach Klartext und stellte die Qualität der Mannschaft in Frage.

Ob der formschwache Mittelfeldspieler der Richtige ist, um diese Worte auszusprechen, sei dahingestellt. Wichtig war, dass es einmal jemand getan hat. Man wird das Gefühl nicht los: Die Grasshoppers rennen mit geschlossenen Augen ins Verderben. Momentan beträgt der Rückstand auf den zweitletzen Platz drei Punkte. Bis zur Winterpause dürften es noch mehr werden. In den letzten beiden Runden treffen die Zürcher auf Sion (auswärts) und Basel (zu Hause).

Hatte das hauptsächliche Qualitätsdefizit zu Beginn der Saison noch den Angriff betroffen, steckt nun auch die Defensive im Krisensumpf. In den letzten drei Partien kassierte sie zehn Gegentreffer. Kein gutes Zeichen für die taktischen Dispositionen von Trainer Sforza und deren Umsetzung.

Dennoch regiert beim Rekordmeister das Prinzip Hoffnung. Die Rückkehr der Verletzten soll nach der Winterpause die sportlichen Frühlingsgefühle auslösen. Zweifel sind allerdings angebracht: Cabanas droht nach seiner neuerlichen Operation weitere Monate auszufallen, Rennella ist seit seiner Ankunft in Zürich nur ein Phantom und Calla fast schon notorisch verletzt.  Und ob Smiljanic im Herbst seiner Karriere das Ruder nochmals herumreissen kann, ist höchst fraglich. Eine weitere Baustelle betrifft den Torhüterposten. Benito ist nicht annähernd ein gleichwertiger Ersatz für Yann Sommer.

Wollen die Grasshoppers den Totalabsturz verhindern, gibt es nur einen Lösungsansatz: Sie müssen in der Winterpause ihre hehren Sparprinzipien über Bord werfen und in neues Personal investieren. So gut der Nachwuchs im Frühling 2010 gespielt hat, so zweifelhaft ist eine Wiederholung dieses sportlichen Wunders. Denn wer sich schon jetzt vom Nervenflattern paralysieren lässt, wird unter dem wachsenden Druck kaum neues Selbstverstrauen entwickeln. Gefordert sind beim Rekordmeister Erfahrung und Kaltblütigkeit. Und die kann die aktuelle Mannschaft nicht bieten.

Das gleiche gilt für Verwaltungsratspräsident Urs Linsi. Er verweigert den Betrag von 350‘000 Franken zur Umrüstung der Fankurve im Letzigrund in einen Stehplatzsektor mit der Begründung, dass man erst im neuen Hardturm wieder investieren wolle. Wie bitte? Im neuen Hardturm? Dessen Fertigstellung ist im Optimalfall für 2016 geplant. Weist die bürgerliche Mehrheit im Stadtparlament Anfang Dezember das Budget 2011 zurück, dürfte sich der Bau weiter verzögern – oder ganz begraben werden. Es wäre nicht das erste Mal in der jüngeren Vergangenheit, dass die GC-Verantwortlichen in der Zukunftsplanung auf ein Luftschloss setzen.

Dazu gehört auch die hochgelobte Nachwuchsförderung. Sie droht zur Propagandalüge zu verkommen. Die Rote Laterne brennt bei GC nicht nur bei der ersten Mannschaft. Sowohl das U18- (mit 0 Punkten) als auch das U16-Team belegen den letzten Platz.

Herr Linsi, bitte wachen Sie auf. Die Fans wollen GC in der Super League sehen – und nicht Vaduz. Darüber existiert nur eine Meinung. Sogar in Basel, Bern und beim FCZ.

Welches ist das Derby des Jahrhunderts?

Thomas Renggli am Freitag den 26. November 2010

Der Zürcher Daniel Gygaz beim Torschuss zwischen den GC-Spielern Christoph Spycher (rechts) und Reto Ziegler beim denkwürdigen Derby vom 3. März 2004 (Bild: Keystone)

Die Realitäten im Zürcher Fussball driften auseinander. Die Grasshoppers stehen sportlich gegen Bellinzona vor der nächsten Überlebensübung und leben finanziell von der Hand in den Mund, der FCZ träumt (zu) laut von Meistertitel und Champions League und will auch abseits des Rasens tiefe Spuren hinterlassen. Präsident Ancillo Canepa, der grösste Fan des Klubs, spricht von «nachhaltigen Projekten». Dazu gehören die Eröffnung des FCZ-Museums (im nächsten Februar) und die Publikation einer aufwendigen Vereins-Chronik. Letztere ist seit Freitag im Buchhandel zu haben. Sie zeichnet auf 432 reich bebilderten Seiten die 114-jährige Geschichte des Klubs minutiös nach, porträtiert Protagonisten, erzählt Geschichten und die Geschichte. Ein ausführlicher Statistikteil rundet das gelungene Werk ab.

An der Vernissage sprach Canepa mit der ihm angeborenen Bescheidenheit vom «besten Sportbuch, das in den letzten zehn Jahren im deutschen Sprachraum erschienen ist». Vermutlich dürften selbst in der Stadt Zürich die Meinungen darüber auseinandergehen – oder zumindest in Niederhasli.

Autor Michael Lütscher hatte inhaltlich nämlich nur das zweitletzte Wort. Im Zweifelsfall stand das präsidiale Vetorecht über allem. In der Rubrik das «Derby des Jahrzehnts» werden die denkwürdigsten Stadtrivalen-Vergleiche abgehandelt – und da machen sich die FCZ-Chronisten der Geschichtsfälschung strafbar.

Für das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts kam das letzte Saisonspiel 2006/2007 in die Wertung. Dank einem 2:0 gegen die Grasshoppers sicherte sich der FCZ damals den elften Meistertitel.

Sportlich gesehen ist diese Wahl nachvollziehbar – und trotzdem könnte sie falscher nicht sein. Es gab im letzten Jahrzehnt – ja Jahrhundert – wohl nur einen Derby-Tag, von dem noch heute jeder Zürcher Fussball-Interessierte genau weiss, was er damals gemacht hat und wo er war – selbst wenn er das Spiel nicht im Hardturm-Stadion verfolgt hatte. Die Rede ist vom 3. März 2004. Der FCZ spielte im Cup-Halbfinal den Stadtrivalen an die Wand, führte bis in die 82. Minute 5:2 – bevor er spektakulär den Boden unter den Füssen verlor und in einem epischen Finale 5:6 unterging.

Es war das Derby aller Derbys – die Mutter aller Niederlagen. Gleichzeitig markierte die dramatische Bauchlandung auch die Initialzündung zur Auferstehung des FC Zürich. Das Schicksal hatte ein Einsehen. Auf wundersame Weise wendeten sich die Fussballgötter dem FCZ zu. Das Glück wechselte nachhaltig die Seiten. Ein Jahr später gewann der seit Jahren gebeutelte Klub den Cup. Am 13. Mai 2006 wurde die 93. Minute zur meisterlichen Legende. 2007 und 2009 folgten zwei weitere Meistertitel. Hätte es den 3. März 2004 nie gegeben, wäre vermutlich alles ganz anders gekommen…

Dieser Sieg gehört Thorsten Fink

Thomas Renggli am Mittwoch den 24. November 2010

Ein Sieg für den einst Geschmähten: FCB-Trainer Thorsten Fink (Bild: Keystone)

Als Thorsten Fink im Sommer 2009 beim FC Basel die Nachfolge von Trainer Christian Gross antrat, war die Meinung bei vielen Fachleuten schnell gemacht: Das konnte nicht gutgehen. Ein Auswärtiger, der als Spieler ein loyaler Wasserträger gewesen war und in seiner ersten Station als Cheftrainer (Ingolstadt) spektakulär Schiffbruch erlitten hatte, schien im St. Jakob-Park zum Scheitern verurteilt. Finks sprichwörtliches deutsches Selbstvertrauen, das in der Schweiz nicht selten als Arroganz verstanden wird, akzentuierte die Vorurteile.

Knapp anderthalb Jahre später ist über Thorsten Fink nur eine Meinung zulässig: Der frühere Bayern-Verteidiger macht als Basler Trainer alles richtig. Wer es bis gestern nicht geglaubt hat, muss spätestens heute einen Rückzieher machen. Der Sieg im kapitalen Champions-League-Spiel gegen den rumänischen Meister Cluj gehört Thorsten Fink – und nur Thorsten Fink.

In einem Moment, als die halbe Mannschaft verletzt oder gesperrt fehlte, verrichtete quasi die Basler B-Formation Stellvertreter-Arbeit der Extraklasse – dank der geschickten langfristigen Strategie des Trainers. Das Rotationsprinzip, das beispielsweise dem FCZ (und dessen Trainer Bernard Challandes) vor Jahresfrist im Spagat zwischen Meisterschaft und Champions League vollkommen die Orientierung geraubt hatte, war die Grundlage des Basler Triumphs – nicht weil Fink gestern mit einem personellen Geniestreich den Fussball neu erfand, sondern weil der FCB-Trainer schon während der gesamten Saison seiner zweiten Garde regelmässig zu Spielgelegenheiten verholfen hat. Dies führte in der Meisterschaft punktuell zu Ausrutschern und hätte am vergangenen Wochenende im Cup gegen Servette um ein Haar das Out bedeutet, doch letztlich war das Wechselspiel der Schlüssel zum gestrigen Erfolg: Spieler wie Almarares, Cabral oder Tembo hätten bei einem starren Teamgefüge (und ohne vorherige Spielpraxis) gegen Cluj die Lücken nie derart nahtlos schliessen können. Und auch im Umgang mit Shaqiri bewies Fink meisterliches Fingerspitzengefühl. Im exakt richtigen Moment – am letzten Samstag in Genf – las der Deutsche seinem zur Arroganz neigenden Youngster vehement die Leviten und holte ihn auf den Boden der Realität zurück.

Der FCB überwintert im Europacup. Für die Champions-League-Achtelfinals dürfte es aller Voraussicht nach aber nicht reichen. Dies allein auf das unverständliche Nachlassen von Bayern München am Dienstag in Rom zurückzuführen, wäre zu billig. Basel zahlt nachträglich die Rechnung für den Fehlstart in Cluj – und die ist undankbar hoch. Sie beträgt über fünf Millionen Franken.

Die Glücksfee war parteiisch

Thomas Renggli am Montag den 22. November 2010

Jubel auf dem Sportplatz Gurzelen: Der FC Biel hat den FC Luzern aus dem Cup geschossen. (Bild: Keystone)

«Der Cup hat seine eigenen Gesetze» – so lautet eine besonders abgedroschene Fussball-Weisheit. «Stimmt nicht ganz», muss man mit Blick  auf den laufenden Wettbewerb in der Schweiz relativieren. Es dauerte in den ersten drei Hauptrunden 56 Partien, bis ein Favorit stolperte – am Sonntag der FC Luzern gegen den Challenge-League-Klub Biel. Diese Überraschung hatte es aber in sich. Hier die Seeländer, die im 97 Jahre alten Gurzelen-Stadion spielen, das viertkleinste Budget (1,7 Mio.) aller B-Teams ausweisen und nicht einmal wissen, ob sie für die kommende Saison eine Challenge-League-Lizenz beantragen; da der stolze Super-League-Leader, der vor dem Einzug in die modernste Arena des Landes steht und davon träumt, dass die Bäume im Innerschweizer Fussball wieder in den Himmel wachsen.

Nicht nur für den FC Biel – Schweizer Meister von 1947 und Cup-Finalist 1961 – ist die Qualifikation ein Glücksfall. Auch der Schweizer Verband jubelt. Der Coup der Seeländer verhinderte, dass die Viertelfinal-Plätze quasi nach Papierform verteilt wurden und der K.o-Wettbewerb seine grösste Attraktion verlor – die Möglichkeit einer echten David-gegen-Goliath-Geschichte.

Dass es fast soweit gekommen wäre, ist hausgemacht. Anders als etwa in Deutschland oder England, geniessen die Schweizer Super-League-Teams in den ersten beiden Runden Artenschutz – und können nicht auf einen Gleichklassigen treffen. Dies reduziert das Überraschungspotenzial erheblich – und verbaut den Kleinen den Weg durch den Wettbewerb in der Regel vorzeitig. Vor allem widerspricht es dem Grundgedanken des Cups, der den Teams aller Klassen die gleichen Chancen gewähren sollte. Wieso muss es in der Schweiz ausgeschlossen werden, dass in der ersten Runde Basel auf den FCZ oder YB auf Sion trifft?

Ziemlich eigenartig war nach den Achtelfinals die Auslosung der Viertelfinals – übertragen vom Schweizer Sport-Fernsehen, geleitet von der Universal-Moderatorin Claudia Lässer. In Ermangelung einer valablen Alternative durfte der GC-Spieler Davide Calla in die Lostrommel greifen. «Ich will ein Heimspiel. Ich gebe mir alle Mühe», sagte Calla ziemlich unbedarft in die Fernsehkameras. Die Fussballgötter hatten Gehör: GC spielt im Letzigrund gegen Sion. Der Stadtrivale FCZ muss nach Bern.

Frau Lässer forderte von Calla während der Auslosung gleich noch die Prognosen zu den Paarungen ein. Sie wird doch nicht etwa wetten? Dass Verbands-Notar Robert Breiter gute Miene zum skurrilen Spiel machte, steigerte die Glaubwürdigkeit der Inszenierung nicht. In Zeiten, in denen im Fussball mehr über Korruption und Manipulation als über Resultate gesprochen wird, sollte wenigstens die Glücksfee neutral und unbefangen sein.