Das St. Galler Publikum steht bekanntlich nicht auf Alex Frei. Lauter als das Pfeifkonzert gegen den Nationalmannschafts-Captain in der AFG-Arena am letzten Freitag war nur das anschliessende Gejammer – vom Direktbetroffenen und dessen Umfeld. Dabei müsste der 31-jährige Goalgetter allmählich gelernt haben, mit solchen Reaktionen umzugehen – und vor allem wissen: Missgunst und Neid sind die ehrlichsten Formen der Anerkennung. Abgesehen davon könnte man vor einem Penalty auch mehr als zwei Schritte Anlauf nehmen.
Heute Abend im St.-Jakob-Park beim Schlager gegen England sind Misstöne ausgeschlossen. Einerseits gilt in europäischen Stadien mittlerweile ein Vuvuzela-Verbot, andererseits werden allfällige Nebengeräusche konspirativer Ostschweizer Elemente von der Basler Kundschaft garantiert übertönt. An der Birs wird Alex Frei noch als das angesehen, was er ist: der mit Abstand produktivste Fussballer des Landes, der allein für die Nationalmannschaft bisher 40-mal ins Tor und an der Euro 04 sogar den Nacken von Steven Gerrard getroffen hat.
Trotzdem müsste auch in Basel allmählich eine Erkenntnis gereift sein: Alex Frei ist als Captain ähnlich ungeeignet wie als Rapmusiker. Er beansprucht die Rolle des Leaders und Wortführers, aber wenn es ihm nicht läuft, verweigert er die Kommunikation (wie an der WM). In Interviews vermutet er hinter jeder Frage eine rhetorische Falle und stuft die Journalisten prinzipiell als publizistische Meuchelmörder ein (vergleiche Tages-Anzeiger-Interview von letzter Woche). Wie Häuptling Winnetou spricht er in der dritten Person Einzahl von sich. Richtig zufrieden ist er nur, wenn er selbst im Zentrum steht. Man wird den Verdacht nicht los, dass ihm eine 2:3-Niederlage (mit zwei persönlichen Treffern) gegen England lieber wäre als ein 1:0-Sieg, bei dem er den Jubel über das entscheidende Tor Eren Derdiyok überlassen müsste.
Frei tritt jeden Corner und jeden Freistoss, fordert den Ball bei jeder Gelegenheit. Doch gegen aussen entsteht der Eindruck – weniger wäre mehr. Der Stürmer würde sich selbst den grössten Gefallen tun, wenn er einen Teil der Verantwortung delegieren und sich so selber aus der Schusslinie nehmen würde.
Dazu müsste in letzter Konsequenz die Abgabe der Captain-Binde gehören. Es ist allerdings kaum anzunehmen, dass Frei diesen Schritt je von sich aus tun wird. Zu gross ist sein Ehrgeiz, zu ausgeprägt sein Selbstwertgefühl. Auch Hitzfeld wird sich hüten, in dieser Angelegenheit eine neue Baustelle aufzutun. Denn er weiss genau: In einem Kader, in dem treffsichere Spieler ähnlich selten sind wie FCB-Fans in St. Gallen, kann er es sich nicht leisten, Alex Frei zu vergraulen.
Die Zeit wird dieses Problem allerdings lösen – und Hitzfeld (oder seinem Nachfolger) neue Optionen in die Hand spielen. Dann muss auch die Captain-Frage neu gestellt werden und die Verantwortung jenem Spieler übertragen werden, der als einziger permanent Weltklasse verkörpert und in jeder Beziehung der grösste Identifikationsfaktor ist – egal, ob er in Basel im Tor oder in Wolfsburg in einem Gebärsaal steht: Diego Benaglio.