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10 Reisetipps für wahre Fussball-Fans

Thomas Renggli am Montag den 25. Oktober 2010


Es wurde in den letzten Tagen in diesem Blog viel über Korruption, Falschspieler und Mauschelei diskutiert. Zu Recht. Die sportpolitischen Machtspiele der Verbandsoberen tauchen die ganze Szene in ein schiefes Licht. Die Faszination des Sports und die Leidenschaft der Fans können sie aber nicht zerstören. Die Fussballkultur lebt weiter, Blatter hin oder her. Im Folgenden eine Aufzählung von aufregenden Adressen auf der «Rückseite» der Fussball-Welt.

Nottingham. Das gibts nur in England. Ein zweifacher Meistercupsieger krebst in der Anonymität der Zweitklassigkeit umher – Nottingham Forest. Der Klub lockt regelmässig über 20‘000 Fans in den City-Ground und hat nach dem 2:0 gegen Ipswich Town Land in Sicht. Der Playoff-berechtigte 6. Platz ist nur zwei Punkte entfernt.

Berlin. Dynamo Berlin regierte den DDR-Fussball. Doch im Westen wartet man seit Jahrzehnten auf Neues. Hertha BSC Berlin gewann seine einzigen beiden Meistertitel in den Zwischenkriegsjahren (1930/1931). Seither hofft der Hauptstadtklub permanent auf bessere Zeiten – derzeit als Leader der zweiten Liga. Am Freitag sahen 40‘000 Fans das 2:0 gegen Greuther Fürth.

Madrid. Zugegeben – Atletico Madrid passt nur bedingt in diese Aufzählung. Neun Meistertitel und der Gewinn der Europa-League im vergangenen Frühling stehen für eine der erfolgreichsten Adressen im Land des Weltmeisters. Doch im Vincente-Calderon-Stadion, wo zu den Heimspielen stets über 40‘000 Fans kommen, stehen Anspruch und Wirklichkeit seit Jahrzehnten meist in einem krassen Widerspruch. 2000 stieg der Klub sogar ab. Und wer Real Madrid zum Stadtrivalen hat, ist quasi per definitionem der sympathische Underdog.

Neapel. Ob Camorra, Konkurs oder ein Vulkanausbruch, die Popularität der SSC Napoli kann nichts erschüttern. Der Klub steht für die Identität einer ganzen Region und den Widerstand des Südens gegen den Norden. Zweimal (1987/1990) gewann er den Titel. Maradona machte das Stadio San Paolo zu einem Wallfahrtsort. Nach turbulenten Jahren hat sich der Klub gefangen und wieder in der Spitzengruppe der Serie A etabliert. Am Montagabend empfängt er die AC Milan – Klassenkampf und emotionale Eruptionen garantiert.

Essen. Rotweiss Essen zählt zu den traditionsreichsten Klubs Deutschland. Doch im Hier und Jetzt haben die Fans in der grössten Stadt des Ruhrpotts wenig zu lachen. Dass das prominenteste Klubmitglied (Pelé) am Samstag seinen 70. Geburtstag feierte, ändert daran nichts. «Nordrhein-Westfalen-Liga» heisst die triste Wirklichkeit – die fünfthöchste Klasse im Land. Immerhin: Nach einem 2:0 gegen die Sportfreunde Siegen ist Rotweiss Tabellen-Leader.

Turin. Mit 27 Meistertiteln ist Juventus Turin italienischer Rekordmeister. Doch die Sympathien der Turiner gehören «Il Toro» – egal, ob der nun AC oder FC Torino heisst, gerade bankrott gegangen ist oder (wie jetzt) als 11. der Serie B im sportlichen Niemandsland gefangen ist. Im Stadio Comunale schlägt das Herz des Turnier Fussballs.

Salzburg. Die Sportvereinigung Austria Salzburg – einer der traditionsreichsten österreichischen Fussballklubs und 1994 im Uefa-Cup erst im Final von Inter Mailand gestoppt – wurde 2005 durch die Übernahme von Red Bull faktisch ausgelöscht. Die Fans hielten den Mythos am Leben und gründeten den Sportverein Austria Salzburg. Nach vier Meistertiteln hat es der Klub wieder bis in die dritthöchste Liga (Regionalliga West) geschafft. Momentan belegt er den 9. Platz.

Dresden. Der achtfache DDR-Meister Dynamo dümpelt in den Niederungen der dritten Liga umher. Trotzdem mobilisiert er die Massen. Durchschnittlich 18‘000 Fans kommen zu den Heimspielen des früheren Polizeiklubs. Am vergangenen Wochenende sahen 29‘300 Zuschauer das 2:2 gegen Hansa Rostock im Rudolf-Harbig-Stadion.

München. Mit seinen sportlichen Erfolgen und der wirtschaftlichen Sonderstellung überstrahlt der FC Bayern alles. Doch es gibt ein Leben jenseits der Fussball-Schickeria. Im Herzen eines echten Münchners wird es immer Platz haben für den TSV 1860 München. Die «Löwen» repräsentieren Arbeiterklasse und Volkskultur. Doch sportlich bringen sie in der zweiten Bundesliga keinen Fuss vor den anderen. Am Samstag kamen sie gegen den Tabellenletzten Arminia Bielefeld nicht über ein 0:0 hinaus – vor 20‘000 Zuschauern.

Winterthur. Seit der FCZ zum FC C(anepa) geworden ist, gibt es im Zürcher Profi-Fussball nur noch einen Ort, an dem Sozialromantiker wirklich auf ihre Rechnung kommen: Die Winterthurer Schützenwiese. Die Fan-Szene in der Bierkurve wäre bereit für den sportlichen Klassenkampf, und die angestaubte Arena böte die perfekte Kulisse für eine fussballerische Revolution. Leider bleiben die Kultivierung der Niederalge und das Schwärmen von vergangenen Zeiten derzeit der einzige Trost für die bittere Realität im Halbdunkeln der Challenge League.
Diese Auflistung stellt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Liebe Leser, welches ist Ihr bevorzugter Aussenseiter? Welches Ihr Tipp für eine Reise in die «Unterwelt» des Fussballs?

Himmeltraurig für den Fussball

Thomas Renggli am Samstag den 23. Oktober 2010
Der Hohepriester in einem fragwürdigen System: Sepp Blatter.

Der Hohepriester in einem fragwürdigen System: Sepp Blatter.

Fussball – da gibt es nichts zu beschönigen – ist kultivierter Betrug: Spieler, die ohne Fremdeinwirkung wie vom Blitz getroffen zu Boden fallen; scheinbar Schwerstverletzte, die kaum werden sie vom Platz getragen, aufspringen wie junge Rehe; Schwalben, die das ganze Jahr fliegen; die Hand Gottes als ultimatives Symbol der fussballerischen Blasphemie. Die Falschspieler sind allgegenwärtig. Ligaübergreifend. Weltweit. Woche für Woche.

Die Fifa («For the good of the game») hat sich den Kampf gegen jegliche Form der Mauschelei und der Unfairness auf die Fahne geschrieben. Sie setzt unter anderem auf ein Frühwarnsystem gegen Wettmanipulation und redet unablässig von Respekt und Ethik.

Alles nur Propagandalügen? Scheinheiligkeit? Der Bestechungsskandal um die Vergabe der WM-Turniere 2018 und 2022 deutet darauf hin. Zwar sind die fehlbaren Exekutivmitglieder Amos Adamu (Nigeria) und Reynald Temarii Mitte Woche von der betriebseigenen Ethikkommission suspendiert worden, doch irgendwie wird man den Verdacht nicht los: Das ist nur die Spitze des Eisberges. In der geschützten Werkstatt vieler Sportverbände gehören Gefälligkeiten, Nettigkeiten und Seilschaften zum System.

Vier weitere Fifa-Funktionäre – Slim Aloulou (Tunesien), Amadou Diakite (Mali), Ahongalu Fusimalohi (Tonga) und Ismael Bhamjee (Botswana) machten sich offenbar der Beihilfe schuldig. Ausserdem ist von Absprachen unter den Bewerbern die Rede. Eine Hand wäscht die andere. Fifa-Präsident Joseph S. Blatter sprach von einem «traurigen Tag für den Fussball und einem traurigen Tag für das Leben.»

Tatsächlich ist es traurig – himmeltraurig. Aber nicht erst seit gestern. An echter Transparenz ist am Fifa-Hauptsitz niemand interessiert. Weshalb auch? Würde man zu genau hinschauen, könnte man das Falsche sehen. Das erklärt indirekt auch die sture Ablehnung des Weltverbandes gegen technische Hilfsmittel für Schiedsrichter.

Der Ball rollt dennoch weiter – auch nach den jüngsten Vorkommnissen. Dass Politik und Justiz wegschauen, ist keine Überraschung. Wer will schon die Fifa vergraulen – oder gar vertreiben? Letztlich wird Gras über die Sache wachsen, Joseph Blatter die Ethikkommission für ihr resolutes Durchgreifen loben und am 2. Dezember die Exekutive die WM-Turniere vergeben – als sei nichts gewesen. Mein persönlicher Tipp: Russland wird nicht leer ausgehen. Dort gehört Korruption zur Alltagskultur.

Müssen wir uns bei Alex Frei entschuldigen?

Thomas Renggli am Mittwoch den 20. Oktober 2010
Schoss in Rom ein sehr schönes Tor: Alex Frei.

Schoss in Rom ein sehr schönes Tor: Alex Frei.

Alex Frei hat es wieder einmal der ganzen Welt gezeigt. Frei ist noch immer ein Stürmer der Extraklasse. Wie er in der 12. Minute den Ball ins Römer Netz hämmerte, verdient die grösste Anerkennung – sogar von Zürchern, Montenegrinern und allen anderen Nichtbaslern. Noch erstaunlicher als der sportliche Volltreffer: Im Moment des Glücks huschte Frei ein Lächeln übers Gesicht. Da stellen sich grundsätzliche Fragen: Ist der Basler vielleicht doch nicht der verbissene, arrogante Egozentriker, als den er auch in diesem Blog immer wieder wahrgenommen und dargestellt wird? Basieren die Einschätzungen und Kritiken der letzten Wochen auf einem grossen Missverständnis? Ist an dieser Stelle eine umfassende Entschuldigung nötig?

Nein, ist sie nicht. Einerseits bin ich dezidiert der Meinung, dass ein Fussballer, der anderthalb Millionen Franken pro Jahr verdient und alle Vorzüge des Star-Daseins geniesst, ein paar Pfiffe und öffentliche Kritiken gegen sich mit Gelassenheit und Grandezza wegestecken müsste. Oder heult sich Francesco Totti heute bei seiner Nonna aus, weil die Roma gestern von den eigenen Fans gnadenlos (und völlig zu Recht) ausgebuht wurde? Anderseits hat Freis starke Leistung im Olimpico seine Kritiker indirekt in einem entscheidenden Punkt bestätigt: Ohne die zentnerschwere Last der Captain-Binde am Arm spielt der Stürmer um Klassen stärker. Mit Bestimmtheit würde er auch in der Nationalmannschaft wieder regelmässig treffen, würde ihn Hitzfeld von diesem Druck befreien. Oder noch besser: würde sich Frei selber davon befreien.

Es wäre der Ausweg aus dieser verworrenen Situation und hätte für alle Beteiligte nur Vorteile: Frei würde beweisen, dass er auch sich selbst hinterfragt. Hitzfeld könnte seine Mannschaft unabhängig von innenpolitischen Überlegungen aufstellen. Niemand würde ein Aufhebens machen, wenn Frei nicht zum Interview erschiene. Die kurz- und mittelfristige Zukunft der Nationalmannschaft lässt sich an einer simplen Frage festmachen: Ist Alex Frei bereit, über den eigenen Schatten zu springen? Hoffen wir es. Denn sein Lächeln würde auch der Nati gut anstehen.

Der Cup-Final gehört nach Bern!

Thomas Renggli am Montag den 18. Oktober 2010
Spielten und feierten zuhause: Spieler des letztjährigen Cupsiegers FC Basel.

Spielten und feierten zuhause: Spieler des letztjährigen Cupsiegers FC Basel.

Cup-Zeit ist Fest-Zeit. David gegen Goliath. Fussball auf dem Lande. Doch in der Schweiz haben die Kleinen nicht mehr viel zu lachen. In den Sechzehntelfinals setzten sich die zehn Super-League-Teams mehrheitlich im Sparmodus durch. Torverhältnis: 40:5. In der ersten Runde war das Verdikt (49:3) noch deutlicher.

An den sportlichen Tatsachen lässt sich ebenso wenig ändern wie an der wachsenden Diskrepanz zwischen Profis und Amateuren. Die schwindende Attraktivität des Cup-Wettbewerbs ist aber auch hausgemacht. Mit dem aktuellen Auslosungsverfahren, das in den ersten beiden Runden den regionalen Aspekt nicht mehr berücksichtigt, hat der Verband ein böses Eigentor geschossen. Der Zürcher Drittligaklub Racing wagte im wichtigsten Spiel der Klubgeschichte (1/32-Final gegen Yverdon) nicht einmal Eintrittsgeld zu verlangen. Die Grasshoppers schossen sich in den ersten beiden Runden gegen Béroche-Gorgier (9:0) und Gumefens/Sorens (12:0) den Alltagsfrust von der Seele und lernten nebenbei die Romandie besser kennen, doch in Töss und Wettswil hätten diese Schützenfeste sogar die Verlierer wunschlos glücklich gemacht.

Betrüblicherweise findet auch der Akt der Auslosung in dieser Phase nicht mehr im Fokus der Fernsehkameras statt. Hatte man sich früher noch an den farbigen Kugeln und dem gestrengen Blick des Verbands-Notars erfreuen können, werden einem die Begegnungen der nächsten Runde nun in einer lieblosen Kurzmeldung zwischen Unihockey-Resultaten und dem Ausblick auf das weitere TV-Programm serviert.

Cup ist Kultur. Cup ist Ritual. Cup ist Tradition. Dazu zählt auch der Austragungsort des Finals. Seit die Young Boys ihre sportliche Seele verkauft haben und auf Plastik spielen, ist die Weltordnung aus den Fugen geraten.

Basel oder Bern? Jedes Jahr wird eine Frage diskutiert, die eigentlich gar nicht gestellt werden dürfte. Würden in Zürich neben Luftschlössern auch Stadien gebaut, wäre alles noch komplizierter. Dabei ist der Fall glasklar: Der Cup-Final gehört nach Bern – ohne Wenn und Aber. Also liebe Berner: Aktiviert Euren Platzwart, sät Rasen und sorgt dafür, dass der Cup-Final wieder fix dorthin zurückkehrt, wo er hingehört: Ins Wankdorf – pardon, ins Stade de Suisse.

Die hässlichste Fratze des Fussballs

Thomas Renggli am Samstag den 16. Oktober 2010


Der vergangene Dienstag war der schwärzeste Tag in der jüngeren Geschichte des europäischen Fussballs. Nicht wegen der Pfiffe gegen Alex Frei in Basel. Nicht wegen der Entlassung von Christian Gross in Stuttgart. Sondern wegen der unfassbaren Ausschreitungen am Rande des EM-Qualifikationsspiels Italien – Serbien in Genua.

Die Chronologie der Ereignisse liest sich wie ein schlechter Brutalofilm: Nach einem Saubannerzug durch die italienische Hafenstadt stürmen die Gewalttäter den serbischen (!) Mannschaftsbus und beschiessen den eigenen Goalie Wladimir Stojkovic mit Leuchtpetarden. Der 27-Jährige, der als früherer Angestellter von Roter Stern Belgrad mit seinem Wechsel zu Partizan Belgrad, offenbar einen schweren Tabubruch begannen hat, flüchtet in die italienische Kabine. Aufs Spielfeld wagt er sich nicht mehr.

Nach weiteren Gewalt-Exzessen im Stadion zögert der Schiedsrichter den Anpfiff 35 Minuten hinaus. Nach sechs Spielminuten bricht er die Begegnung aus Sicherheitsgründen ab. Unter anderem haben die mit Stahlrohren bewaffneten Ultras Petarden abgefeuert, Abschrankungen niedergerissen, eine albanische Fahne verbrannt und Parolen gegen den Kosovo skandiert. An ihrer Spitze: Der einschlägig bekannte Nationalsozialist Ivan Bogdanov. Die serbischen Spieler, angeblich in den Bemühungen um Deeskalation, antworten ihrem Anhang mit dem Nationalisten-Gruss – gestreckter Daumen, Zeige- und Mittelfinger.

Der italienische Innenminister Roberto Maroni lobt am Tag danach das Vorgehen der lokalen Polizei und sagt, sie habe ein «Blutbad» verhindert. Dass es aber nicht möglich war, eine Gruppe von 300 Hooligans unter Kontrolle zu bringen und am Stadionzutritt zu hindern, ist schwer nachvollziehbar. Noch mehr Fragen wirft das Verhalten der serbischen Instanzen (Justiz, Regierung, Fussball-Verband) auf. Hatten die gleichen Gewalttäter offenbar nur zwei Tage zuvor in Belgrad an eine Homosexuellen-Parade eine wahre Treibjagd veranstaltet. Vogelstrausspolitik? Oder die Behörden als Komplizen von politisch motivierten Fussballchaoten?

Die Gewaltspirale im internationalen Fussball hat längst auch die Schweiz erfasst. Die Räuber und Gendarmspiele im Umfeld von Super-League-Spielen gehören zur schlechten Gewohnheit und halten vor allem Familien und Frauen vom Stadionbesuch ab. Umso irritierender mutete es an, dass die «Anti-Hooligan-Gesetze» von öffentlichen Einsprachen (im Kanton Zürich) während Jahre blockiert worden sind. In dieser Woche hat das Bundesgericht Klartext gesprochen und sämtliche Rekurse abgewiesen. Damit sind jene fünf Massnahmen, die während der (absolut friedlich verlaufenen) Euro 08 gültig waren, ab sofort wieder in Kraft: Rayon-Verbot, Meldepflicht, Ausreisebeschränkung, die Hooligan-Datenbank und die vorsorgliche Festnahme von Gewalttätern.

Allen Datenschützern, Sozialromantikern und Menschenrechtlern, die aufheulen und sich in ihrer persönlichen Entfaltung eingeschränkt fühlen, seien die Video-Aufnahmen der Schlacht von Genua empfohlen – und die Fragen gestellt: Wollen wir das? Muss nicht alles Menschenmögliche unternommen werden, um derartige Auswüchse zu verhindern? Oder wollen wir die hässlichste Fratze des Fussballs stillschweigend akzeptieren?

Alex Frei verliert 1:4

Thomas Renggli am Mittwoch den 13. Oktober 2010


EM-Qualifikation. Schweiz – Wales. Es läuft die 79. Minute. Das Heimteam führt 2:1. Der ersehnte Befreiungsschlag liegt nur einen Schritt entfernt. Trainer Ottmar Hitzfeld überlässt nichts dem Zufall – und bringt mit Eren Derdiyok einen frischen Spieler. Wen wechselt er aus? Marco Streller, den Vorbereiter des 1:0 und Schützen zum 2:1? Stocker, der von ihm an der WM übergangene Himmelsstürmer?

Nein. Es ist Alex Frei, der Captain, der zuvor fast keinen Fuss vor den anderen gebracht hat und je länger je mehr vom Publikum ausgepfiffen worden ist. Nicht vom Publikum in St. Gallen oder Zürich. Das Spiel findet in Basel statt, eigentlich einem geschützten Refugium für den FCB-Goalgetter. Auch beim Abgang begleiten Frei gellende Pfiffe. Dieser reagiert mit einer resignierenden Handbewegung, die grossen Interpretationsspielraum zulässt. Hat der Super-League-Topscorer von der Nati die Nase voll?

Die Reaktionen der Zuschauer sind nicht schön. Sie widersprechen dem Sportgeist und wären beispielsweise in England unvorstellbar. Doch die Schweiz ist nicht England, und Alex Frei ist nicht Steven Gerrard. In der Schweiz gehören Pfiffe gegen die eigene Mannschaft quasi zur Kultur. Die Identifikation mit dem Heimteam ist oft kleiner als der Anspruch auf einen anständigen Gegenwert für das Eintrittsticket.

Im Fall von Frei kumulieren die Gründe für den Unmut. Mit seinem oft verbissenen, frustrierten, arroganten Auftreten personifiziert der Basler den sportlichen Tiefflug und den schwelenden Imageverlust der Nationalmannschaft in der letzten Monate. Als Integrationsfigur einer höchst heterogenen Mannschaft – mit Spielern unterschiedlichster ethnischer Herkunft – ist er ungefähr gleich geeignet wie Christoph Blocher als Stimmenfänger für den sofortigen Schweizer EU-Beitritt.

Wie die Captainbinde an seinen Arm gekommen ist, wissen wohl nicht einmal die Fussballgötter. Solange Frei die Tore im Akkord erzielte, konnte das von Hitzfeld hartnäckig negiert werden. Doch mittlerweile ist Frei seit über einem Jahr im Nationaltrikot ohne persönliches Erfolgserlebnis. Seine Rekordstatistiken haben für die aktuelle Situation kaum den Wert des Papiers auf dem sie gedruckt sind. Im Gegenteil: Man wird den Verdacht nicht los, das Schweizer Offensivspiel lief gegen Wales deshalb viel besser, weil es am Captain vorbeilief.

Tore gegen St.Gallen, Xamax und Bellinzona bringen die Schweizer Nationalmannschaft der Euro 2012 keinen Schritt näher. Diese Erkenntnis wird auch bei Ottmar Hitzfeld reifen. Der Lörracher ist nicht nur ein Mann des resultatorientierten Fussballs, sondern auch der pragmatischen Personalstrategie. Zu Bayern-Zeiten hielt er am umstrittenen Stefan Effenberg nur solange fest, wie er ihn unbedingt brauchte. Als ihm ein mehr als gleichwertiger Ersatz (Michael Ballack) zur verfügbar stand, vollzog er einen unkomplizierten Wechsel in der Schaltzentrale der Mannschaft, öffnete die Türen für frischen Wind und neuen Esprit. Dafür wäre es auch in der Schweizer Nationalmannschaft höchste Zeit. Die Schweiz hat gegen Wales 4:1 gewonnen. Alex Frei hat 1:4 verloren.

Soll Hitzfeld zurücktreten?

Thomas Renggli am Montag den 11. Oktober 2010

Ottmar Hitzfeld ist (neben Ernst Happel und José Mourinho) einer von drei Trainern, der die Champions League (bzw. den Meistercup) mit zwei verschiedenen Vereinen gewonnen hat. 2010 wurde er mit dem «Ehrenpreis der Bundesliga» als erfolgreichster Trainer der Bundesligageschichte gewürdigt. Doch der Alltagsstress im Klubfussball forderte seinen Tribut. Zwischen 2004 und 2007 beanspruchte Hitzfeld eine Auszeit. «Ausgebrannt» bezeichnete er seinen Zustand damals. «Burnout-Syndrom» sagen die Psychologen.

Musste gehen: Ex-Wales Coach John Toshack.

Musste gehen: Ex-Wales Coach John Toshack.

Drei Jahre nach dem Ende des Time-out scheint der Lörracher wieder am selben Ort angelangt – an den eigenen Grenzen. Die Farbe in seinem Gesicht ist fahl, die Ränder unter den Augen sind tief und dunkel. Seine Statements nach der Bruchlandung gegen Montenegro negieren die Realität: «Uns fehlte das nötige Glück.» «Die Spieler haben mit Leidenschaft gekämpft und bis an ihre körperlichen Grenzen gearbeitet.» «Wir müssen nach vorne schauen. Irgendwann wird der Knoten platzen.» Durchhalteparolen. Ralph Krueger, der Schönredner aus dem Eishockey, sagte einmal nach einem 2:5 gegen Kanada: «Wenn wir die Tore abziehen, waren wir gleich gut.»

Musste gehen: Ex-Bulgarien-Coach Stanimir Stoilov.

Musste gehen: Ex-Bulgarien-Coach Stanimir Stoilov.

Dass Hitzfeld davon ausgeht, nicht Montenegro, sondern Wales, Bulgarien oder die Schweiz werde am Schluss den zweiten Platz belegen, mutet grotesk an. Die montenegrinische Auswahl beweist seit Monaten jene Qualitäten, die das Schweizer Team in der Ära Hitzfeld nur in Ausnahmefällen zeigt: Überzeugungskraft, Hingabe, Kreativität, Kaltblütigkeit.

Hitzfeld steht im Schweizer Verband (noch) unter Artenschutz. Das ist aufgrund seines Plamarès korrekt und nachvollziehbar. Doch irgendwann wird sich auch der ehemalige Champions-League-Sieger mit den branchenüblichen Mechanismen konfrontiert sehen: Für den Misserfolg bezahlt immer der Trainer. Davon waren in der Schweizer Gruppe bereits die Coaches von Wales (John Toshack) und Bulgarien (Stanimir Stoilov) betroffen. Beiden erklärten ihren Rücktritt – notabene nach Niederlagen gegen Montenegro. Hitzfeld aber macht weiter.

Sollte er aufhören? Schweiz-Coach Ottmar Hitzfeld.

Sollte er aufhören? Schweiz-Coach Ottmar Hitzfeld.

Trotzdem drängen sich spätestens nach dem Spiel gegen Wales grundsätzliche Frage auf – unabhängig vom Resultat, denn der angerichtete Schaden scheint unter den momentanen Voraussetzungen irreparabel. Ist Hitzfeld noch der richtige Mann? Kann er mit seinem resultatorientierten Zweckfussball die Trendwende schaffen? Oder wäre es nicht für alle Beteiligten das Beste, er würde seinen Posten freiwilligen räumen?

Hitzfelds geschützte Werkstatt hat versagt

Thomas Renggli am Samstag den 9. Oktober 2010
Niemand übernahm Verantwortung: Ottmar Hitzfeld beobachtet sein Team im Spiel gegen Montenegro.

Niemand übernahm Verantwortung: Ottmar Hitzfeld beobachtet sein Team im Spiel gegen Montenegro.

Was die Schweizer Nationalmannschaft in Montenegro geboten hat, war (je nach Wahrnehmung und Strenge der Einschätzung) blamabel, peinlich oder inakzeptabel. Was Trainer Ottmar Hitzfeld nach dem Spiel ins TV-Mikrofon sagte, machte sprachlos: «Uns hat das nötige Glück gefehlt». Köbi Kuhn wäre für eine solche Aussage sofort durch den medialen Fleischwolf gedreht worden.

Braucht es tatsächlich Glück, um gegen die Auswahl eines Klein-Staates mit 670‘000 Einwohnern bestehen zu können? Sind wir sportlich so tief gesunken, dass wir künftig über Siege gegen San Marino, die Färöer oder den Vatikan jubeln müssen?

Hitzfelds Worte spiegeln den Auftritt seiner Mannschaft in Podgorica. Die Schweizer Leistung war hilflos, drucklos, mutlos – ohne jegliche Überzeugung und Leidenschaft. Wer gegen die jüngste FIFA-Nation auf ein Unentschieden spielt, hat schon vor dem Anpfiff verloren. Natürlich kann Hitzfeld die Tore nicht selber schiessen. Aber er könnte die Mannschaft mit einer Strategie aufs Feld schicken, die wenigstens ein Mindestmass an Kreativität und Optimismus erlaubt. Könnte.

Am Dienstag steht gegen Wales das Spiel der letzten Chance an. Faktisch ist Hitzfeld aber schon jetzt gescheitert – und die FREI-Zeit abgelaufen. Wo war der Captain und selbsternannte Teamleader, als man ihn brauchte? Er hat zwar (wie üblich) jeden Corner und jeden Freistoss zur Chefsache erklärt, doch sein Einfluss aufs Spiel war nichtig. Wo war Inler? Wie soll ein Regisseur Regie führen, wenn er während 93 Minuten unsichtbar bleibt? Was war mit Shaqiri los? In Hitzfelds taktischem Korsett wurde selbst dem Basler Energiebündel die Luft abgeschnürt. Oder Stocker. Oder Streller? Niemand war bereit, Verantwortung zu übernehmen.

Der freitägliche Absturz ist mehr als eine Momentaufnahme. In den letzten zwölf Spielen gewann die Schweiz nur zweimal. Die Analyse führt zu einem desillusionierendes Fazit: Hitzfelds geschützte Werkstatt hat versagt.

Gleichzeitig ist ein Silberstreifen am Horizont auszumachen. Die Zeit zur Neuordnung könnte besser kaum sein. Bei den Spielern wartet eine frische Generation, die mehr will als bloss verwalten. Der 4:1-Sieg der U21-Mannnschaft in der EM-Barrage gegen Schweden war ein klares Zeichen. Und in der Trainerfrage bieten sich diverse hochinteressante Lösungen. Zum Beispiel Lucien Favre oder (früher oder später) Christian Gross…

Eine Niederlage wäre das Beste für die Nati!

Thomas Renggli am Mittwoch den 6. Oktober 2010
Könnte den Neuanfang konsequent vorantreiben: Ottmar Hitzfeld.

Könnte den Neuanfang konsequent vorantreiben: Ottmar Hitzfeld.

Erst 90 Minuten hat die Schweizer Nationalmannschaft in der EM-Qualifikation gespielt (1:3 gegen England) – und schon steht sie mit dem Rücken zur Wand. Verliert sie am Freitag auswärts gegen Montenegro, ist sie faktisch weg vom Fenster. Die erstarkten Engländer sind kaum aufzuhalten. Und die montenegrinische Auswahl läge schon neun Punkte voraus – bei sechs verbleibenden Spielen ein kaum wettzumachendes Handicap.

Schiessen sich Frei und Streller in Podgorica den Frust der England-Pleite von der Seele und befreien die Nati aus ihrer notorischen Torarmut? Oder wird die Fussballprovinz zur Sackgasse auf dem Weg an die EM 2012?

So paradox es tönt, aber eine Niederlage wäre das Beste für die Zukunft der Nationalmannschaft. Sie würde eine schonungslose Analyse nach sich ziehen, die Verantwortlichen dazu veranlassen, jeden zu hinterfragen und den Erneuerungsprozess ermöglichen, der schon nach der WM angesagt gewesen wäre. Der Lucky Punch gegen Spanien wäre als Feigenblatt endgültig verwelkt. Unattraktiver Zweckfussball lässt sich nur solange rechtfertigenwie die Resultate stimmen.

Vor allem Hitzfeld müsste ein klares Bekenntnis abgeben und sich zum personellen Umbruch durchringen. In den verbleibenden Qualifikationsspielen könnte er den Neuanfang konsequent vorantreiben, bedingungslos auf die Spieler der Zukunft setzen (Shaqiri, Costanzo, Djourou, Derdiyok, Stocker, BenKhalifa…) und die Captainbinde endlich dem wahren Leader (Benaglio) übergeben. Die wichtigsten Frage würden sich so automatisch beantworten: Ist Ottmar Hitzfeld noch der richtige Nationaltrainer? Findet er die Motivation, um nochmals eine Mannschaft zu formen – und mit mehr Risiko das Kreative und Konstruktive zu fördern? Oder beginnt mit der Dienstreise nach Montenegro seine persönliche Abschiedstournee?

Rettet GC!

Thomas Renggli am Montag den 4. Oktober 2010
In der Düsternis des Tabellenkellers wären aber Routine, Cleverness, Kaltblütigkeit gefragt: Trainer Sforza mit einem seiner Teenager.

In der Düsternis des Tabellenkellers wären aber Routine, Cleverness, Kaltblütigkeit gefragt: Trainer Sforza mit einem seiner Teenager.

27 Meistertitel, 18 Cup-Siege. Die Grasshoppers sind im Schweizer Fussball das Mass aller Dinge – im historischen Kontext. Die Gegenwart sieht anders aus: 10 Spiele/8 Punkte/11 Tore. 10. (und letzter) Platz. Zahlen, die das schlimmste befürchten lassen – sogar den freien Fall in die Challenge League.

Das 222. Zürcher Stadtderby bestätigte dieses Bild weitgehend. Während 70 Minuten war der Rekordmeister faktisch nicht auf dem Platz. Und weil das FCZ-Personal sein Pensum mit der Leidenschaft eines Staatsangestellten am Montagmorgen abspulte, entwickelte sich ein Spiel, das ungefähr so prickelnd war wie das vom Letzigrund-Catering ausgeschenkte alkoholfreie Bier.

Am Schluss jubelte der FCZ über den fünften Saisonsieg – den zweiten gegen den Stadtrivalen. GC-Trainer Ciriaco Sforza machte gute Miene zum bösen Spiel und lobte sein Team für die Reaktion in der Schlussphase: «In den letzten 20 Minuten habe ich gesehen, wohin ich mit dieser Mannschaft kommen kann.»

Zuvor hatte Sforza das gemacht, was er seit seinem Amtsantritt vor rund 16 Monaten angesichts der prekären Personallage fast immer macht – einen Teenager nach dem anderen eingewechselt: Freuler (18), Adili (16), Riedle (19). In der Startaufstellung standen mit Zuber (19), Abrashi (20), Toko (20), Emeghara (21) und Cvetinovic (22) fünf weitere Zauberlehrlinge.

Das Bekenntnis der Grasshoppers zur Jugend ist sympathisch und wirtschaftlich vernünftig. Wenn aber schon gegen den arg verunsicherten FCZ die sportliche Rechnung nicht mehr aufgeht, müssten die Alarmglocken heulen. Die GC-Jünglinge haben das Talent und das spielerische Potenzial für eine schöne Karriere. Doch in der Düsternis des Tabellenkellers zählen andere Werte: Routine, Cleverness, Kaltblütigkeit.

Ist gefordert: GC-Präsident Urs Linsi.

Ist gefordert: GC-Präsident Urs Linsi.

Gefordert ist die Klubführung um CEO und VR-Präsident Urs Linsi. Der Ex-Banker besitzt den  Leistungsausweis eines knallharten Sanierers.  Bei der Fifa hatte er als Generalsekretär den Finanzhaushalt erfolgreich geordnet. Auch bei den Grasshoppers schuf er in einer scheinbar aussichtslosen Situation erstaunlich schnell ein neues pekuniäres Fundament – beruhend auf dem Verkauf der grössten Talente (Seferovic, BenKhalifa).

Nun steht Linsi aber vor der grössten Herausforderung. Anders als bei der Geldvermehrungsmaschinerie Fifa, die allein aus den TV-Rechten Milliarden generiert, hängt der wirtschaftliche Gewinn im Klubfussball vor allem vom  sportlichen Erfolg ab. Bei diesem Spagat sind Kompromisse zugunsten der fussballerischen Substanz unabdingbar. Ist Linsi dazu nicht bereit, kann der GC-Sinkflug zum spektakulären Absturz führen – und ligaweit grössten Schaden anrichten. Denn sind wir ehrlich: Auf einen starken Grasshopper-Club kann der Schweizer Fussball nicht verzichten. Auch nicht Basel oder der FCZ.