Unter dem Motto «Was ich zum Thema Fussball schon lange loswerden wollte» schreiben verschiedene Autorinnen und Autoren über das, was sie an der populärsten Sportart der Welt stört – oder fasziniert. Blogger heute ist Anatol Heib*.

In Schönheit sterben: Die deutschen Spieler verlassen nach der Halbfinalniederlage an der Euro 2012 mit hängenden Köpfen das Spielfeld. (Bild: Keystone)
Ich bin kein Fan eines Fussballclubs, für mich gibt es nur ein Team: die deutsche Nationalmannschaft. Seit der WM 1986 habe ich keine Turnierpartie der Deutschen verpasst, sass immer in der ersten Reihe. Erst habe ich mit Briegel, Littbarski und Völler gefiebert, dann mit Sammer, Kirsten und Kahn. Mit Klose, Müller und Lahm will es aber nicht mehr so richtig klappen.
Ich bleibe nicht mehr 90 Minuten am Ball und surfe während eines Spiels schon einmal mit dem iPad. Zum Beispiel nach dem 0:2 von Italiens Mario Balotelli im EM-Halbfinal. Es hat mich abgelenkt und vom Sprung an die Decke bewahrt. Zerstreuung brauchte ich auch, als die Schweden gegen die DFB-Elf aus einem 0:4 noch ein 4:4 machten. Auf dem Rasen sah ich keine deutschen Kämpfer mehr, sondern paralysierte, ratlose Ballkünstler, die sich ihrem Schicksal ergaben. Das ist neu für eine deutsche Elf.
Eigentlich sind Deutschlands Voraussetzungen für einen grossen Titel so gut wie schon lange nicht mehr: Der dreifache Weltmeister spielt seit Jogi Löws Amtsantritt vor knapp fünf Jahren gepflegter denn je und verfügt über ein riesiges Reservoir an Talenten. Ich bin noch immer hingerissen von den Siegen an der WM 2010 in Südafrika gegen England (4:1) und Argentinien (4:0). Doch auf die Fussball-Party folgte regelmässig der Kater. EM 2008: Final verloren. WM 2010: Halbfinal verloren. EM 2012: Halbfinal verloren. Die Gegner waren schlicht und einfach abgezockter.
Es sind kleine Dinge, die nicht mehr stimmen. Deutschland schiesst viele Tore, fängt sich aber auch regelmässig ein paar Stück. Gegen die Grossen herrscht vorne Knorz und hinten Naivität. Die Abwehr, früher ein Bollwerk, ist das grosse Sorgenkind. Das liegt auch an der taktischen Marschroute – Verteidiger mutieren zu oft zu Mittelfeldspielern. Oder weshalb sonst wird die deutsche Elf regelmässig mit einem Pass in den freien Raum übertöpelt und keiner aus der Viererkette steht beim Mann?
Deutschland bog in der Vergangenheit verloren geglaubte Spiele um. Heute ist es umgekehrt. Löws Equipe führt 4:0 gegen Schweden und kann froh sein, dass es am Ende 4:4 steht. Gary Lineker spottete nach dem Spiel: „Fussball ist ein einfaches Spiel, bei dem 22 Männer 90 Minuten lang einem Ball hinterherjagen, und am Ende geben die Deutschen einen Vier-Tore-Vorsprung preis.“ Noch vor ein paar Jahren sagte er ehrfürchtig: „Fussball ist ein einfaches Spiel: 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am Ende gewinnen die Deutschen.“
Immerhin kann ich auf dem Sofa mit dem iPad Videos von erfolgreicheren Zeiten abspielen: Zum Beispiel jene der Euro 96 in England, als Deutschland zum letzten Mal einen Titel gewann – mit dem ersten Golden Goal der Fussball-Geschichte, erzielt von Oliver Bierhoff. Es war kein Zaubertor, Bierhoff hat den Ball mit gütiger Hilfe des Torwarts irgendwie reingewürgt. Aber es war ein Tor, das den Titel brachte.
Heute fehlt letztlich das Gift, ein Spielertyp, der mal ein Zeichen setzt, die glattgebügelten Kollegen wachrüttelt. Deutschland verlor früher auch wichtige Spiele, doch ergab es sich nicht seinem Schicksal. Man denken nur an den WM-Final von 1986: Argentinien führte 2:0, keiner setzte mehr einen Pfifferling auf Beckernbauers Mannschaft, die mit viel Kampf ins Endspiel gekommen war. Doch Rudi Völler und Kalle Rummenigge glichen nach Eckbällen in sengender Hitze noch zum 2:2 aus. Klar, am Ende gewannen die Argentinier noch 3:2. Doch sie wussten: Mit einer deutschen Elf muss man bis zur letzten Sekunde rechnen.
Deshalb: Kämpft wieder mehr und zaubert weniger, liebe deutsche Fussballer. Holt endlich wieder einen Titel. Der bleibt im Gedächtnis haften, alles andere vergisst man.
*Anatol Heib ist Digital-Redaktor und Crossmedia-Verantwortlicher bei Tagesanzeiger.ch.
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