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Spaniens Ära ist noch lange nicht vorbei

Mämä Sykora am Montag den 2. Juli 2012
Sapiens Goalie Iker Casillas stemmt den Pokal in die Höhe.

Mit den Spaniern ist noch lange zu rechnen: Spaniens Goalie Iker Casillas stemmt den Pokal in die Höhe.

Fertig ist sie, die EM 2012. Ein wunderbares Turnier war es! Zwar gab es wie meistens an grossen Turnieren nichts Neues zu entdecken, der Fussball wurde auch in der Ukraine und Polen nicht neu erfunden, aber ich hatte lange nicht mehr solchen Spass, Spiele zu gucken. Was mich besonders gefreut hat: Schwalben, Zeitschinden, Simulieren und Unsportlichkeiten gab es so gut wie gar nicht. Erstaunlich für Partien, in denen es um so viel geht. Auch wurde – mit Ausnahme des nicht gegebenen Treffers der Ukraine gegen England – kaum über umstrittene Schiedsrichterentscheide diskutiert, weil sich die Herren in Schwarz für einmal vornehm zurückhielten bei der Verhängung von Strafstössen und der Verteilung von Karten. Ich hoffe schwer, dass dieser Massstab auch in den kommenden Wettbewerben angewendet wird.

Die Antwort auf die grösste Frage vor der EM – nämlich ob die Spanier ihren Zenit überschritten haben und reif für eine Niederlage seien – gaben sie selber gestern Abend in eindrücklicher Form. Klar, Italien hatte Pech mit den Verletzungen, doch selbst ohne diese Schicksalsschläge wäre die Furia Roja in dieser Verfassung nicht zu bezwingen gewesen. Von keiner Mannschaft dieser Welt. Im Gegensatz zu den vorangegangen Partien konnten sie die Fehlpassquote wieder im Promillebereich halten, setzten beim Ballverlust sofort energisch und konsequent nach, sodass die Italiener nie ins Spiel kamen, wie sie es im Duell in der Gruppenphase noch geschafft hatten. Andrea Pirlo, ihr Denker und Lenker, wurde kein bisschen Raum zur Entfaltung gelassen. Selbst wenn er sich bis zum eigenen Strafraum zurückfallen liess, hatte er stets einen störenden Gegenspieler bei sich. Spanien brillierte nicht nur mit der bekannten Ballsicherheit, auch taktisch war dies gestern eine meisterliche Leistung. Es war die perfekte Antwort für die Kritiker, die nach den mühevollen Auftritten des Weltmeisters namentlich gegen Kroatien und Portugal verkündeten, die Zeit der Spanier sei nun wirklich abgelaufen, zu gut seien die Gegner mittlerweile auf das Tiki-Taka eingestellt, zu wenig durchschlagkräftig der Angriff.

Ein Irrglaube, wie sich herausgestellt hat. Selbst ohne Puyol, ohne einen David Villa, mit dem das Spiel der Spanier deutlich variabler ist, holte man schliesslich verdient den Titel, weil man im Finale die beste Turnierleistung abliefern konnte. Zenit überschritten? Im Gegenteil: Die Ära der Spanier ist noch lange nicht vorbei. Von den Leistungsträgern sind lediglich Xavi und Xabi Alonso schon über 30, dahinter wartet eine ganze Armada an hochtalentierten Spielern, die sich problemlos in dieses Spiel einbinden lassen. Juan Mata (Chelsea, 24), Thiago Alcántara (21, Barcelona) oder Oriol Romeu (20, Chelsea) sind nur einige der kommenden Weltstars, die das Erbe von Xavi und dereinst auch Iniesta antreten können. Auch in den weiteren Mannschaftsteilen hat Spanien die Qual der Wahl. Wer soll diese Spanier in den kommenden 10 Jahren aufhalten können?

Deutschland? Der Herausforderer Nummer 1 der Spanier zeigte einmal mehr erfrischendes Offensivspiel, doch wer solch eklatante Abwehrschwächen offenbart wie im Spiel gegen Italien, der kann kein Turnier gewinnen. Die Schelte, die nach dem Aus über das deutsche Team hereinbrach, war hingegen dennoch völlig übertrieben, wie Arnd Zeigler richtig stellte. Denn Schuld am deutschen Scheitern tragen nämlich weder Jogi Löw noch die Spieler, sondern ein kaum bekannter Stammgast unserer EM-Bar. Die vier Siege der Bundeself verfolgte jener deutsche Fan nämlich jeweils im grünen Deutschland-Trikot mit der Aufschrift «Scholl», stets auf dem gleichen Platz. Doch ausgerechnet fürs Halbfinale erschien er mit Verspätung, die Sitzbank war schon belegt, darüber hinaus trug er nicht sein Glückstrikot, sondern ein stinknormales weisses Shirt. Wer so nachlässig mit Traditionen bricht, muss sich wahrlich nicht wundern, wenn sein Team die Segel streichen muss. Es ist die erste Regel im Handbuch von Fussballfans.

Nach dem beeindruckenden Auftritt der Spanier gestern gegen Italien muss man aber auch anmerken, dass in den nächsten Turnieren auch 100 Scholl-Trikots nichts nützen werden. Spanien ist und bleibt die Nummer Eins. Und das wohl noch für ziemlich lange Zeit.

Entdeckungen und Enttäuschungen

Mämä Sykora am Donnerstag den 21. Juni 2012

Gruppenphase abgeschlossen, Zeit für ein erstes Fazit der EM 2012: Mit Ausnahme vom einmal mehr grandios gescheiterten Russland stehen alle grossen Namen in der K.-o.-Runde, und das auch zu Recht. Von den Ausgeschiedenen hätten lediglich die erstaunlichen Kroaten ebenfalls einen Platz unter den letzten Acht verdient, den sie einer anderen Gruppe wohl auch erreicht hätten.

Hier nun also meine ersten Gewinner und Verlierer der diesjährigen EM:

Die alten Männer

epa03267107 Ukrainian Andriy Shevchenko verabschiedet sich bei den Fans nach dem Gruppenspiel gegen Frankreich, 15 Juni 2012. (Bild: EPA)

Andriy Shevchenko verabschiedet sich bei den Fans nach dem Gruppenspiel gegen Frankreich, 15 Juni 2012. (Bild: EPA)

Die Zeiten, in denen man an Endrunden noch junge Talente entdecken konnte, sind ohnehin längst vorbei. Bisher trumpften in Polen und der Ukraine sowieso vor allem die älteren Herren auf: Andrea Pirlo (Ita, 33), Georgios Karagounis (Gre, 35), Olof Mellberg (Swe, 34), Christian Wilhelmsson (Swe, 31), Steven Gerrard (Eng, 32), Darijo Srna (Kro, 30) und sogar für ein Spiel wenigstens Andriy Shevchenko (Ukr, 36). Für einige davon der letzte schöne Frühling ihrer Karrieren.

Petr Jiráček

Milan Baros umarmt Petr Jiracek (v.)nach dessen Tor gegen Polen, 16. Juni 2012. (Bild: AP Photo)

Milan Baros umarmt Petr Jiráček (v.) nach dessen Tor gegen Polen, 16. Juni 2012. (Bild: AP Photo)

Nach einem sehr bescheidenen Start beim VfL Wolfsburg, wo er seit Anfang Jahr unter Vertrag ist, erwartete man vom Mittelfeldspieler ebenso wenig wie von der gesamten tschechischen Mannschaft. Seine Einsatzfreude und seine Power kompensierten aber selbst den Ausfall von Tomáš Rosický, dem einzigen Klassespieler in ihren Reihen, und mit zwei Toren schoss er Tschechien ins Viertelfinale. Kein Wunder, will ihm Felix Magath nun auch noch die zweite Entdeckung, Theodor Gebre Selassie, im Verein zur Seite stellen. Auch ein weiterer Wolfsburger vermochte zu überzeugen: Der unermüdliche Kroate Mario Mandžukić.

Die fehlenden Schwalben
Nach einer weiteren Saison Champions League mit Schwalben, unendlichen Verzögerungen, vorgetäuschten Verletzungen und dergleichen ist die EM-Endrunde dieses Jahr geradezu ein Segen! Obwohl es um noch viel mehr geht, muss man sich nur in bescheidenem Ausmass über Schauspielereien und sich am Boden wälzende Fussballer ärgern. Selbst notorische Taucher halten sich heuer vornehm zurück. I like!

Portugal

epa03263277 Portuguese players Pepe (C), Miguel Veloso (L) and Joao Moutinho celebrate Pepe's goal during a Group B match of the UEFA EURO 2012 at Arena Lviv Stadium, in Lviv, Ukraine, 13 June 2012.  EPA

Pepe (M.), Miguel Veloso (l.) and João Moutinho feiern ein Tor, 13 Juni 2012. (Bild: EPA)

Begeisternd spielte Portugal an der Heim-EM 2004, auch wenn man im Finale grandios versagte. Die neu gewonnenen Sympathien verspielte man in den folgenden drei grossen Turnieren umgehend wieder – mit stetem Lamentieren, Fallenlassen, Simulieren und überhartem Spiel. Dass es auch anders geht und das erst noch sehr erfolgreich, zeigte die Mannschaft nun unter Paulo Bento. Souverän qualifiziert in der Todesgruppe mit klugem, schnellem und ansehnlichem Spiel. Bravo!

Bestrafung bei Nachlassen
So regelmässig musste die Phrase, dass ein Nachlassen jederzeit bestraft werden kann, schon lange nicht mehr bemüht werden wie an dieser EM. Die Mannschaften liegen nahe beieinander, wer auch nur kurz einen Gang zurückschaltet, wird sofort bestraft. Portugal gab gegen Dänemark einen 2-Tore-Vorsprung her, Deutschland kam trotz Überlegenheit gegen Holland ins Zittern, als sie etwas Gas wegnahmen, Italien liess nach der starken ersten Halbzeit gegen Kroatien nach und die Tschechen retteten gegen Griechenland auch nur mit Glück den Sieg über die Zeit. Das ist erfreulich, weil die Spiele so über 90 Minuten spannend bleiben.

Die russische Nonchalance

epa03268888 Alan Dzagoev of Russia reacts after missing a chance during the Group A preliminary round match of the UEFA EURO 2012 between Greece and Russia in Warsaw, Poland, 16 June 2012.  EPA

Der Russe Alan Dzagoev vergibt eine Torchance gegen Griechenland, 16 Juni 2012. (Bild: EPA)

Ein wahrlich unmögliches Team. Nach dem Startfurioso gegen Tschechien ergaben sie sich in Selbstgefälligkeit, taten gegen Polen nach dem 1:1 nur noch das Nötigste, im falschen Glauben, dass sie den Griechen ohnehin haushoch überlegen seien. Fussballerisch waren sie das vielleicht, doch ungefährlich, ideenlos und unmotiviert. Eine Unaufmerksamkeit reichte für das verdiente Aus. Schade um einen viel versprechenden Viertelfinal gegen Deutschland, den verwöhnten und leichtsinnigen Russen tut es hoffentlich gut.

Holland ist keine Enttäuschung

Viele Buchmacher sahen Holland als Titelanwärter, die Spieler selbst ohnehin. Zwar standen sie vor zwei Jahren im WM-Final, doch selbst in Südafrika konnten sie mich nicht ganz überzeugen, zumal ausser Brasilien kein grosses Team aus dem Weg geräumt wurde. Das Gefälle im Team ist gross, die Abwehr wacklig und der Sturm berechenbar. Und dass eine noch so glorreiche Quali mit Spielen gegen Ungarn, Finnland, Moldawien usw. nichts aussagt, ist hinlänglich bekannt. Das 0:3 gegen Deutschland gab einen besseren Eindruck, was von Oranje zu erwarten ist. Das Resultat: Aus in der Vorrunde und für mich eine gewonnene Wette.

Die letzte gute EM

Mämä Sykora am Samstag den 16. Juni 2012


Am Donnerstag spielte Spanien gegen Irland. Die Partie war zu keinem Zeitpunkt auch nur annährend ein Duell auf Augenhöhe. Mehrheitlich erinnerte es vom Qualitätsunterschied an die Grümpelturnier-Partien zwischen Sechst- und Erstklässlern. Spaniens Ziel war, mit drei Toren Differenz selbst bei einem Remis gegen die Kroaten vor diesen zu stehen. Hätten sie 6 Tore schiessen müssen, sie hätten es zweifellos hingekriegt. Nun, gegen den Welt- und Europameister kommen freilich viele Mannschaften in Nöte, allerdings blieb Irland bereits gegen Kroatien den Beweis schuldig, an einer EM mithalten zu können.

Ein Aussenseiter tut jedem Turnier gut. Deren Anhänger freuen sich überschwänglich, überhaupt dabei zu sein, singen selbst bei hoffnungslosem Spielstand durch und für deren Spieler ist es ein einmaliges Erlebnis. Und manchmal schafft ja doch ein Kleiner eine Überraschung. Doch in den meisten Fällen verlaufen Partien mit Beteiligung eines «Fussballzwergs» so wie jene am Donnerstag: erschreckend einseitig, ohne Spannung, langweilig.

Irland ist dieses Jahr das einzige Team, das auf der Bühne der Besten Europas massiv abfällt. Leider zum letzten Mal. Denn seit vier Jahren weiss man, dass die EM 2016 in Frankreich mit 24 Mannschaften ausgetragen werden wird. Eine – mit Verlaub – hirnrissige Idee. Michel Platini ist der Hauptverantwortliche für diese unsinnige Änderung, hatte er doch vor der Kampfwahl um die Uefa-Präsidentschaft den kleinen Mitgliederverbänden mehr Einfluss und EM-Plätze versprochen. Nur ein Jahr nach seinem Amtsantritt hatte er dieses Versprechen bereits eingelöst. Für die sportliche Qualität der nächsten EM ist dies eine Katastrophe.

Wäre die Aufstockung bereits auf dieses Turnier vollzogen worden, wären auch die Play-off-Verlierer Estland, Montenegro, Slowenien und die Türkei angereist, dazu auch noch einige der Gruppendritten der Qualifikation, also etwa Armenien, Schottland, Ungarn und – immerhin – die Schweiz. Man kann es sich denken, wie Partien mit diesen Teams gegen die Topnationen verlaufen wären. Irland hat es vorgemacht.

Die Konsequenzen sind aber noch weiter reichend. Wenn für 52 Uefa-Mitglieder 23 Plätze bereit stehen, verkommt auch die Qualifikation zum Kindergeburtstag. Die Grossen werden zur Halbzeit bereits als Teilnehmer feststehen und können schon mit Experimenten beginnen, was den Wettbewerb verzerrt. Gleiches dort in der Vorrunde des Turniers: Dort wird der gleiche Modus angewendet, den wir glücklicherweise seit der WM 1994 nicht mehr erleben mussten: Neben den zwei Gruppenersten erreichen auch die vier besten Gruppendritten die Achtelfinals. Da reichten bereits vier Punkte zum Weiterkommen, es entschied dabei nicht selten die Tordifferenz im Vergleich mit Teams aus anderen Gruppen. Ein Witz, wenn eine Mannschaft das Glück hat, sich etwa gegen Estland in die nächste Runde ballern zu können.

Anders als bei einer WM wird man bei der EM nicht einmal «neue» Mannschaften kennenlernen können. Konnten Trinidad/Tobago, Nordkorea, Jamaika oder Senegal noch die Neugier wecken und gab es interessante Spieler zu entdecken, kennt man die Europäer zur Genüge. 52 Mannschaften spielen eine Quali, die Hälfte davon kurz darauf noch ein Turnier. Mehr und mehr und mehr und mehr. Die Grenze ist erst erreicht, wenn das Interesse von Zuschauern und Sponsoren angesichts des Überflusses schwindet. Das gilt für sämtliche Wettbewerbe der Uefa.

51 statt 31 Spiele, vier statt drei Wochen – deutlich mehr Spiele, deutlich weniger Qualität und Spannung. Ob dies für die kleinen Länder wirklich «Hoffnung auf einen grossen Fortschritt» bietet, wie Platini kürzlich sagte, darf bezweifelt werden. Chancenlos an einer EM-Endrunde zu sein und vor halbleeren Rängen gegen mässig motivierte Stars anzutreten, ist noch lange kein Garant für Aufschwung. Sicher ist hingegen, dass für viele Leute in vier Jahren die EM erst mit der K.-o.-Runde beginnt.

Die schlimme und fantastische Sbornaja

Mämä Sykora am Sonntag den 10. Juni 2012
Kein Platz für Sentimentalitäten: Coach Dick Advocaat und die russische Nationalmannschaft. (Bild: Keystone)

Kein Platz für Sentimentalitäten: Coach Dick Advocaat und die russische Nationalmannschaft. (Bild: Keystone)

Zwei der vier Gruppen haben wir nun schon in Aktion gesehen, bis jetzt war noch keines der Spiele die fussballerische Offenbarung, auf die alle Zuschauer an jeder Endrunde warten. Umso schöner ist es deshalb, wenn eine Mannschaft genau das hält, was man sich von ihr erhofft hat. Und das schafften in ihrem Match gegen die Tschechen die Russen, für mich die tollste und schlimmste Mannschaft Europas gleichzeitig.

Nach anfänglichen Schwierigkeiten zeigten sie jenes Spiel, dank dem ihr an der EM 08 die Herzen zuflogen: schnörkellos, temporeich, gefährlich, erfrischend. Ein Genuss, der Sbornaja zuzuschauen, wenn es ihr läuft. Arshavin gewohnt vielseitig und trickreich, Dzegoev beweist sein Potenzial, Denisov fehlerlos im defensiven Mittelfeld, Shirokov und Zyrianov die Strategen ohne Allüren – da erträgt er es selbst einen Kershakov, der zwar im Zenit-Dress Tore am Laufmeter erzielt, in der Nationalelf aber jeweils zum Chancentod mutiert. (Man verzeihe mir die englische Transkription der kyrillischen Namen, aber es sieht nun mal viel schöner aus als die hässliche deutsche). Es ist ganz einfach eine Freude, diesen Russen beim Kicken zuzuschauen. Sie zeigen jenen Fussball, den wir alle gerne sehen wollen.

Doch sie können leider auch anders. Der Grat zwischen gesundem Selbstvertrauen und unverschämter Nonchalance ist bei den Russen besonders schmal. Auf einen Erfolg wie die Halbfinalqualifikation vor vier Jahren folgen nur zu gerne Ausrutscher mit verheerenden Folgen, wenn sie Spiele auf die leichte Schulter nehmen. In der Barrage der WM-Qualifikation für 2010 scheiterten sie trotz krasser Überlegenheit an Slowenien, in dieser Kampagne folgten der Heimniederlage gegen die Slowakei ein Ausrutscher gegen Armenien sowie zwei Zittersiege gegen Mazedonien. Der Hang zur Selbstüberschätzung wurde auch jetzt wieder augenfällig: Nach dem vermeintlich vorentscheidenden 2:0 gegen die bescheidenen Tschechen sah man in der russischen Offensive plötzlich Absatztricks statt direktem Spiel – was prompt mit dem Gegentor bestraft wurde –, und Jungstar Dzagoev liess direkt nach der Partie verlauten: «Das war der erste von sechs Schritten zum Titel.»

Da sind wir wieder auf diesem schmalen Grat. 2008 kassierten die Russen im ersten Spiel eine 1:4-Klatsche gegen Spanien. Dieser Dämpfer trug viel dazu bei, dass sie in den folgenden Partien sehr konzentriert und engagiert zu Werke gingen und dabei tollen Fussball boten. Für eine derart launische Mannschaft wie die Russen es sind, kann ein Startsieg auch Gift sein. Folgen jetzt solche Auftritte wie jener gegen Slowenien, müssen wir uns nach der Vorrunde dennoch von ihnen verabschieden, obwohl das Team derzeit auf dem Zenit ist und vom Potenzial her sicherlich zu den Halbfinalanwärtern gezählt werden muss.

Ich beneide Dick Advocaat wahrlich nicht. Ich bewundere seine noch einigermassen füllige Haarpracht angesichts der Tatsache, dass ich selber bei so viel Nonchalance längst des Haareraufens wegen zum Yul Brynner geworden wäre. Gegen Tschechien gab es dafür erst wenig Anlass. Es ist ja überhaupt erstaunlich, dass ich das in diesem Spiel hätte machen wollen/müssen. Immerhin stammt mein Vater aus Tschechien, und doch komme ich nicht umhin, auch in so einer Partie für die Russen zu sein. Ganz im Gegenteil zu den Tschechen spielen sie genau jenen Fussball, den ich liebe. Da ist kein Platz für Sentimentalitäten. Und sowieso: Wären die Russen 1968 nicht in Prag einmarschiert, hätte mein Vater nicht flüchten müssen, wäre also nie in die Schweiz gekommen und hätte demzufolge nie meine Mutter kennengelernt. Ohne die Russen würde es mich also gar nicht geben. In dem Sinne: Rossjia, dawaj!

Diese zugebenermassen etwas dreiste Herleitung für meine Russland-Sympathien sorgte auch prompt schon für grosse Verwirrung. In einer EM-Bar schloss ein nicht sonderlich fussballbegeistertes Pärchen im Wissen um meine tschechischen Wurzeln aus meiner euphorischen Reaktion auf Dzagoevs zweites Tor darauf, dass die Roten wohl die Tschechen seien. Würden diese auch mal wieder so toll aufspielen wie die Sbornaja, hätten sie zumindest gute Chancen, meine Gunst wieder zurück zu gewinnen.

Italien: Ein Skandal für den EM-Titel?

Mämä Sykora am Montag den 4. Juni 2012
Geben sich cool: Antonio Cassano (l.) und Mario Balotelli beim Training. (Bild: Keystone, 25. Mai 2012)

Geben sich cool: Antonio Cassano (l.) und Mario Balotelli beim Training. (Bild: Keystone, 25. Mai 2012)

Der aktuelle Wettskandal, der die Italiener derzeit beschäftigt, bietet einige Parallelen zu 2006, als das Land kurz vor der WM in Deutschland von einem Skandal um Spielabsprachen und Beeinflussung von Schiedsrichtern erschüttert wurde, der als «Calciopoli» in die Geschichte einging. Fünf Teams hätten infolgedessen zwangsrelegiert und/oder mit Punktabzügen bestraft werden sollen, eine Liga tiefer fiel schliesslich nur Juventus.

Schon damals wurde dadurch die Vorbereitung der Azzurri auf ein grosses Turnier erheblich gestört, vor allem, weil nicht nur Offizielle, sondern auch eine ganze Reihe Schiedsrichter und Fussballprofis unter Verdacht standen. Bestraft wurde indes vor allem einer: Luciano Moggi, der Juve-Manager und Wettpate, dem fast schon die Rolle eines Einzeltäters zukam. Mit Ausnahme von Schiedsrichter Massimo De Santis wurde kein einziger der berühmten Verdächtigen bestraft.

Derzeit läuft es ziemlich ähnlich ab wie damals. Jeden Tag tauchen neue Namen von Stars auf, die angeblich in den aktuellen Wettskandal verstrickt sein sollen. Zuerst durchsuchten fünf Polizisten das Zimmer von Domenico Criscito im Hauptquartier des Nationalteams – wobei man sich fragen darf, wie gross die Chance ist, dass einer belastende Dokumente ins Trainingscamp mitnimmt –, kurz darauf veröffentlichte die «Gazzetta dello Sport» Akten, die Leonardo Bonucci verdächtigen. Und natürlich durfte auch der Wirbel um den als Zocker bekannten Gianluigi Buffon nicht fehlen, der mit einer Aussage zu einem suspekten Remis in einer Serie-B-Partie noch zusätzlich Öl ins Feuer goss: «Wenn zwei Mannschaften Unentschieden spielen wollen, ist das ihre Sache. Manchmal sagt man: Zwei Verletzte sind besser als ein Toter.» Einigen genügte dies bereits als Schuldeingeständnis, die Polizei überlegt sich nun ebenfalls, Buffon demnächst zu verhören.

Im Falle Criscitos haben die Verantwortlichen schnell reagiert und den Verteidiger aus dem EM-Kader gestrichen, Trainer Cesare Prandelli dachte gar laut über einen EM-Verzicht nach: «Wenn es unserem Fussball helfen würde, dass wir nicht zur Europameisterschaft fahren, dann wäre es kein Problem. Es gibt wichtigere Dinge.» Auch er will – wie viele andere direkt Betroffene – nicht als derjenige gelten, der Ermittlungen behindert, um dadurch vielleicht sogar ebenfalls als Verdächtiger zu gelten.

Nach all diesen Querelen und den ständigen Beteuerungen, man werde alles daran setzen, die Sache restlos aufzuklären, denn daneben sei die EM ja nun wirklich nicht wichtig, ist nun Demetrio Albertini, dem Chef des italienischen EM-Teams, doch noch der Kragen geplatzt. «Wir haben es so satt!», liess er die Welt wissen. Auch Prandelli tat seinen Unmut über die Vorgehensweise der Ermittler kund und fragte, warum man nicht die EM abwarten könne, um Monate oder Jahre zurückliegende Ereignisse zu untersuchen. Die Frage ist sicherlich berechtigt, an einer EM ist schliesslich auch die Fluchtgefahr ziemlich gering.

Was die Folgen des Skandals sein werden, ist noch nicht absehbar. Ich schätze mal, dass ihm neben dem bereits verhafteten Lazio-Captain Stefano Mauri noch ein paar No-names zum Opfer fallen, während es bei keinem Nationalspieler zu einer Anklage kommt. Der Wirbel hätte dann lediglich die Vorbereitungen der Azzurri gestört, was eine ähnliche «Jetzt erst recht!»-Stimmung auslösen kann wie schon 2006. Auch damals wurde kaum vom Geschehen auf dem Platz berichtet, wie am Freitag gegen Russland (0:3) vermochte Italien auch 2006 in Tests gegen die Schweiz und die Ukraine nicht zu überzeugen – und wurde schliesslich doch verdienter Weltmeister. Wer sie bis jetzt nicht auf der Rechnung hatte für die kommende EM, spätestens jetzt sollte man gewarnt sein. Wer weiss, vielleicht sind die ganzen Skandalgeschichten gar nur ein Spielchen der italienischen Medien, um ihre Jungs zu Höchstleistungen anzuspornen.

Mämä Sykora (36) ist Steilpass-Blogger, Chefredaktor beim Fussballmagazin «Zwölf» und Präsident der Alternativliga Zürich. Seit frühster Jugend begeistert ihn alles, was mit dem runden Leder zu tun hat. In seiner Freizeit tritt er noch immer gerne selber dagegen.

Der Fluch von Youtube

Mämä Sykora am Donnerstag den 31. Mai 2012


In solchen Zusammenstellungen finden junge Fussballer neue Tricks zum Nachahmen.

In der 17. Runde der rumänischen Liga I in der Saison 1993/94 in der Partie zwischen Farul Constanta und Petrolul Ploiesti ereignete sich wahrhaft Unglaubliches: In extremis klärte der Gästekeeper mittels Fallrückzieher auf der Linie, der Ball wurde dreimal ebenfalls mittels «Bicicletta» verlängert, ehe der flinke Stürmer im Strafraum sieben Verteidiger umkurvte und das Leder schliesslich mit der Hacke ins Kreuzeck zimmerte.

Beweise für dieses spektakuläre Tor gibt es freilich keine. Zeuge waren lediglich die Handvoll Zuschauer im Stadion, die Fernsehbilder sind längst in irgendeinem Archiv verschollen. Vielleicht ist es auch gar nie gefallen, sondern nur ein Märchen. Heute kann dies nicht mehr passieren. Fällt in irgendeiner Liga weltweit ein Fantasie-Tor, eine irres Dribbling oder ein ach so origineller Torjubel, erobern die Bilder davon schon am nächsten Tag via Youtube die Welt. Das bringt nicht nur Vorteile.

Denn damit hat auch die Partie Constanta – Ploiesti nicht nur ein paar Hundert, sondern potenziell Millionen von Zuschauern. Die Spieler, namentlich die Stürmer, wissen, dass eine möglichst spektakuläre Aktion ihnen umgehend eine Youtube-Weltkarriere eröffnen könnte. Gelingt sie, freuen sich Kicker und Zuschauer gleichermassen; misslingt sie, ärgern sich Mitspieler und Trainer grün und blau. Dummerweise gelten solche Aktionen ja gerade darum als spektakulär, weil sie nur sehr selten gelingen. Genau darum gibt es auch gleich viele Youtube-Zusammenstellungen von peinlichen Fussballmissgeschicken wie von sensationellen Toren.

Die Folgen reichen gar noch weiter: Nicht bloss die Trainer gehen vermehrt an die Decke, weil ihre Spieler in einem Anflug von Narzissmus die Ego-Variante wählen statt den einfachen Ball zu spielen. Dank Youtube und Videogames, die verrückte Tricks gerne einbauen, finden solche Aktionen schnell Nachahmer auf Pausenplätzen und in Juniorentrainings. Maradona-Spin, Ronaldinho-Elastico, Rabona – praktisch jeder gelungene Versuch auf Profilevel findet auf Youtube begeisterte Klicker. Und schon ist der Name in aller Munde und damit ein Transfer nicht mehr fern. Man erinnere sich nur an den Schweden Andrés Vásquez, der dank einem Zaubertor zum FC Zürich kam, wo er in drei Jahren ganze sieben Mal von Beginn ran durfte. Ihm haftete bald die Bezeichnung «Youtube-Transfer» an.

Viele Profifussballer bewegen sich auf dem schmalen Grat zwischen gesundem Selbstvertrauen und übersteigertem Ego. Auffallen um jeden Preis heisst die Devise – mit schnellen Autos, auffälligen Frisuren und eben auch Aufsehen erregenden «Skills» auf dem Platz. Man könnte zeitweise fast vergessen, dass Fussball eigentlich eine Mannschaftssportart ist. Denn wenn mal wieder einer alle Mitspieler ignoriert hat und mit einem Okocha-Trick eine Torchance erarbeitet und auch verwertet hat, dann werden herbei eilende Kollegen heftig beiseite geschubst, da sie sonst die einstudierte Jubelchoreografie stören würden. ICH habe das alles geschafft. ICH ganz alleine. Schau her, Welt! Morgen ist’s auf Youtube. Und übermorgen bin ich bestimmt schon bei einem grösseren Klub.

Es hat wohl niemand etwas gegen ein bisschen Spektakel. Wäre ja trist, wenn alle nur immer den einfachen Pass wählen würden. Aber dass immer mehr Profis statt für die Mannschaft nur für Youtube spielen, muss doch zu denken geben. Hier wartet eine Menge Arbeit auf die Nachwuchstrainer, denn die kommenden Generationen kennen Youtube und Playstation schon von Kindesbeinen an.

10 Jahre nach dem EM-Titel

Mämä Sykora am Donnerstag den 24. Mai 2012


In wenigen Tagen startet die Europameisterschaft der Grossen, gleichzeitig dürfen wir in der Schweiz das 10-Jahres-Jubiläum des einzigen EM-Titels feiern, den wir je geholt haben. Das war zwar «nur» bei der U-17-EM, aber gleichwohl eine kleine Sensation. Heute sind diese Spieler im besten Fussballeralter. Höchste Zeit, mal wieder nachzuschauen, was aus den Helden von Dänemark geworden sind, die Trainer Markus Frei zum Titel führte.

Swen König, Torhüter (5 Einsätze an der EM)
Weder bei seinem damaligen Verein FC Aarau noch bei den folgenden Stationen (Vaduz, Wohlen, Luzern, GC) schaffte es König über die Rolle des Ersatztorwarts hinaus. In dieser Saison war er bei der AC Bellinzona zum ersten Mal die Nummer 1.

Tranquillo Barnetta, Mittelfeld (5 Einsätze)
Trotz einigem Verletzungspech schaffte es der St. Galler über Hannover zu Leverkusen in die Bundesliga und zum Nationalspieler. Nach 187 Bundesligaspielen sucht er nun eine neue Herausforderung.

Arnaud Bühler, Verteidigung (6 Einsätze)
Seine Auftritte beim FC Aarau brachten ihm einen Transfer zu Sochaux (F) ein, wo er indes kaum zum Zug kam. Nach nur einem Jahr kehrte er zurück und gehört seither zum Stamm des FC Sion.

Henri Siqueira Barras, Verteidigung (5 Einsätze)
Trotz starker Leistungen an der Endrunde brachte er es weder bei GC, noch bei Winterthur, Xamax oder Locarno zum Stammspieler. Siqueira Barras wagte ein Abenteuer und versuchte sich bei kleinen rumänischen und zypriotischen Vereinen, ehe er vor vier Jahren zurückkehrte und seither bei der AC Bellinzona spielt.

Philippe Senderos, Verteidigung (5 Einsätze, 1 Tor)
Wechselte ein Jahr nach dem EM-Titel von Servette zu Arsenal, wo er stets Ergänzungsspieler blieb. Auf Leihbasis spielte er für Milan und Everton, heute ist er bei Fulham.

Yann Verdon, Mittelfeld (3 Einsätze)
Hat es nie in den Profifussball geschafft. Für Bulle, Baulmes und heute Fribourg spielte er in der 1. Liga.

Marko Milosavac, Mittelfeld (6 Einsätze, 3 Tore)
Als einer der auffälligsten Spieler des Turniers schaffte er es weder bei GC noch beim FCZ in die erste Mannschaft. Auf Amateurlevel spielte er beim FC Baden und bei Rapperswil-Jona, nach zwei Auftritten für FC United Zürich hat er die Fussballschuhe nun an den Nagel gehängt.

Goran Antic, Sturm (5 Einsätze)
Immerhin drei Saisons durfte er mit dem FC Aarau die Super League erleben und erzielte dort acht Tore. Heute spielt er wieder in der Challenge League für den FC Winterthur.

Slavisa Dugic, Sturm (4 Einsätze, 2 Tore)
Er versuchte es in jeder Spielzeit woanders: Kriens, Servette, Aarau, Catania, Yverdon, Wohlen, Buochs… Dann kehrte er der Schweiz definitiv den Rücken und heuerte nach einem Umweg über Bosnien in Zypern an. Der Zweitligist APEP Pitsilia ist bereits sein vierter Verein auf der Ferieninsel.

Reto Ziegler, Verteidigung (5 Einsätze, 1 Tor)
Bereits in vier Ländern (England, Deutschland, Italien, Türkei) war der Nationalspieler aktiv, heute ist er Stammspieler bei Fenerbahçe.

Boban Maksimovic, Mittelfeld (5 Einsätze, 2 Tore)
Der Halbfinal-Held gegen England konnte sich bei YB nicht durchsetzen, nach Abstechern zu Baden und Winterthur versuchte er es in der Heimat seiner Eltern beim Traditionsverein Roter Stern Belgrad. Wegen eines Kreuzbandrisses blieb er dort ohne Einsatz und kehrte bald in die Schweiz zum FC Biel zurück. Heute kickt er beim FC Breitenrain in der 1. Liga.

Diego Würmli, Torhüter (1 Einsatz)
Den Traum Profifussball hat der Keeper aufgegeben. Heute spielt er beim FC Regensdorf in der 2. Liga – als Stürmer.

Giona Preisig, Verteidigung (4 Einsätze)
Auch der Lausanner schaffte es nicht bis nach oben. Chiasso, Lugano, Malley und heute Serrières (1. Liga) waren seine Stationen.

Sandro Burki, Mittelfeld (6 Einsätze, 3 Tore)
Mit Lahm und Schweinsteiger spielte er im Nachwuchs von Bayern München. Danach landete er über YB, Wil und Vaduz beim FC Aarau, wo er seit sechs Jahren spielt und es 2008 zu seinem einzigen Länderspiel brachte.

Marco Schneuwly, Sturm (5 Einsätze)
Nach langen Jahren bei YB wechselte er auf diese Saison zum FC Thun und brachte es bislang insgesamt auf 26 Tore in der Super League.

Michael Diethelm, Verteidigung (1 Einsatz)
Durfte beim FC Luzern nur kurz Super-League-Luft schnappen, momentan ist er für den SC Cham in der 1. Liga aktiv.

Stefan Iten, Verteidigung (5 Einsätze)
Bei GC schaffte er den Durchbruch nicht, er ist heute Captain des FC Winterthur.

Christian Schlauri, Verteidigung (6 Einsätze)
Der Winti-Junior spielte jahrelang für Schaffhausen in der Challenge League, erst in dieser Saison durfte er sein Super-League-Debüt feiern. Der Servette-Ergänzungsspieler ist nur einer von drei U-17-Europameistern, die heute in der höchsten Schweizer Spielklasse spielen.

Von der damaligen Mannschaft sind also 2 in einer der Top-5-Ligen gelandet, 3 spielen in der Super League, 4 kamen zu einem Einsatz in der A-Nati und 6 haben es nicht in den Profifussball geschafft. Damit liegen die Europameister von 2002 ziemlich im Schnitt, wie eine Untersuchung der U-17-WM-Finalisten zeigte.

Chelsea ist kein unverdienter Sieger

Mämä Sykora am Montag den 21. Mai 2012
Die Erlösung: Chelsea jubelt nach Drogbas entscheidendem Penalty. (Bild: EQ Images)

Die Erlösung: Chelsea jubelt nach Drogbas entscheidendem Penalty. (Bild: EQ Images)

20:1 Eckbälle, 24:6 Torschüsse, 55:45 Prozent Ballbesitz. Und am Ende jubelten doch die Blauen und versauten damit den Bayern die erhoffte grosse Feier nach dem «Finale dahoam». Nicht wenige Zuschauer und auch einige Journalisten liessen in der Folge ihrem Frust freien Lauf und klagten über die himmelschreiende Ungerechtigkeit des Resultats.

Matthias Sammer etwa ärgerte sich über den Ausgang der dramatischen Partie und meinte: «Dass dies einen Titel bringt, ist ungerecht.» Ungerecht war es bestimmt nicht, wenn überhaupt, dann war es unverdient. Und selbst da würde ich Herrn Sammer widersprechen. Es konnte niemanden überraschen, wie Chelsea am Samstagabend aufgetreten ist. Nicht erst seit der Ankunft von Di Matteo setzen die Blues ganz auf ihre defensiven Stärken und vertrauen auf den stets gefährlichen Didier Drogba. Zudem waren ihre Stammspieler Terry, Ivanovic, Ramires und Meireles gesperrt, ein Ersatz war etwa der 22-jährige Ryan Bertrand, der als erster Spieler überhaupt sein Champions-League-Debüt in einem Finale gab. Angesichts der bisherigen Erfolge in diesem Wettbewerb mit der gleichen Taktik und den zusätzlichen personellen Probleme war der Spielverlauf des Endspiels in München schon vorgezeichnet.

«Wir haben uns eingebunkert, das war nicht schön. Aber wir haben gerade die Champions League gewonnen!», kommentierte Chelsea-Captain Frank Lampard das Spiel. Wer kann es Chelsea verübeln, dass sie sich aufs Abwarten und Kontern verlegten? Warum soll ein Team seine grössten Stärken aufgeben und gegen jegliche Logik versuchen mitzuspielen, nur um dann allenfalls mit wehenden Fahnen unterzugehen? Wer von den Kritikern hätte an Stelle von Di Matteo mit diesem Spielermaterial eine andere Taktik gewählt? Es wäre ein Irrsinn gewesen.

Natürlich wollen alle am liebsten leichtfüssig und locker ohne Unterbruch nach vorne spielen und damit leichte Siege einfahren. Nur funktioniert der Fussball nicht so einfach. Will eine Mannschaft Erfolg haben, muss sie sich ihrer Stärken und Schwächen bewusst sein und diese richtig einschätzen können. Kein Chelsea-Fan wird behaupten, sein Team sei den Bayern spielerisch ebenbürtig, hingegen werden alle die sensationelle Verteidigungsarbeit loben. Und darauf bauen die Erfolge, daran hält man fest. Chelsea wird nie der FC Barcelona sein.

Wenn ein Robben unendlich oft versucht, von rechts in die Mitte zu ziehen und zum Abschluss zu kommen und jedes Mal durchschaut wird, wenn ein Kroos zum zehnten Mal seinen Distanzschussversuch geblockt sieht, wenn 20 Ecken harmlos wie Meerschweinchen in den Strafraum fliegen, dann kann man zwar konstatieren, dass die Bayern mehr fürs Spiel gemacht haben, aber wer weniger Aufwand betreibt, ist bestimmt nicht automatisch ein unverdienter Sieger. Mit Sicherheit aber deutlich effizienter. Unverdient gibt es nicht. Wer kein Mittel gegen eine Mauertaktik findet, der muss sich an der eigenen Nase nehmen.

Chelsea ist ideal besetzt für eine hochkarätige K.o.-Runde à la Champions League. Der Angstgegner aller grossen Teams, der das Spieldiktat den anderen überlässt und ihm dank des Abwehrbollwerks dennoch kaum Chancen zulässt. Und vorne, da sorgt Drogba für Panik bei den Verteidigern, selbst wenn er allein auf weiter Flur ist. So spielt Chelsea nun mal. Damit gewinnt man keinen Schönheitspreis, und in der heimischen Meisterschaft, wo man auch selber mal das Spiel machen sollte, funktioniert das nicht immer. Aber eine Champions League kann man so gewinnen. Und zwar weder ungerechtfertigt noch unverdient. Sondern einfach nach Chelsea-Art.

Und nebenbei: Abramowitschs Millionen hin oder her – ich mag’s den alten Chelsea-Recken wie Petr Čech, Didier Drogba und Frank Lampard wirklich von Herzen gönnen. Sie haben es – Ironie des Schicksals – wahrlich verdient.

Der Wahnsinn von Manchester

Mämä Sykora am Montag den 14. Mai 2012

Ein Finale, das für alle die schon frühzeitig entschiedenen Meisterschaften in Europa in dieser Spielzeit entschädigte. Ein absoluter Wahnsinn, ein Thriller. Diese dramatischen letzten Minuten der englischen Premier League werden in die Geschichte eingehen und in Zukunft in einem Atemzug genannt werden mit dem legendären Champions-League-Finale von 1999 in Barcelona zwischen Manchester United und dem FC Bayern München.

Schon die Ausgangslage war wie von einem Drehbuchschreiber ausgedacht: Die beiden Erzrivalen aus Manchester nach 37 Spielen punktgleich. Die United, Dominator der Premier-League-Ära mit 12 Titeln in 20 Jahren, musste noch gegen Sunderland antreten; City, die «noisy neighbours», deren Besitzer Scheich Mansour bin Zayed al-Nahyan in den letzten drei Jahren die unglaubliche Summe von 1,2 Milliarden Franken investiert hat, empfing zu Hause die in akuter Abstiegsgefahr schwebenden Queens Park Rangers.

44 lange Jahre waren seit dem letzten Titelgewinn der Citizens vergangen. Auch damals, 1968, kam es in der letzten Runde zum Fernduell um den Kübel, und schon damals musste die United gegen Sunderland ran – und verlor. In der Folge fiel City tief, zwischenzeitlich gar in die dritte Liga. Der Popularität – vor allem in der Stadtbevölkerung – tat dies keinen Abbruch. Mehrere Grössen des Showbiz’ gelten als grosse Anhänger von City – etwa Liam und Noel Gallagher von Oasis– und die Supporter weisen gerne darauf hin, dass bei United nur ein Viertel der Stadionbesucher auch in der Stadt wohnt, während es bei City 61 Prozent sind.

Die riesige Erwartungshaltung nach Jahrzehnten der Enttäuschung war in jedem Gesicht im Etihad Stadium zu sehen. Sowohl beim schwerreichen Eigentümer wie bei jenen Familienvätern, die noch den letzten Meistertitel erlebt haben. Und nach dem Führungstreffer durch Zabaleta brachen alle Dämme. Diese Freude, diese Erleichterung, Hüpfen und Schreien, das Ziel so nah vor Augen. Da vergisst man, dass ein zusammengekauftes Starensemble für diese Emotionen verantwortlich ist und freut sich einfach nur mit diesen Leuten mit, denen der Verein so viel bedeutet.

Deren Wechselbad der Gefühle begann indes erst danach. Erst musste der überragende Assistgeber Yaya Touré verletzt ausgewechselt werden, dann unterlief Lescott ein folgenschwerer Schnitzer, der zum Ausgleich führte. Wenig später wieder überbordende Freude, weil sich der QPR-Bösewicht Joey Barton eine doppelte Tätlichkeit leistete und vom Platz musste. Gefolgt von einem weiteren Schock, denn in Unterzahl gelang QPR tatsächlich mit dem zweiten Torschuss die Führung.

Die Verzweiflung war greifbar, sowohl auf dem Rasen wie auf den Rängen. 19:0 Ecken, 35:3 Torschüsse, ungezählte weggeköpfte Flanken. Das 1:2 war ein absurdes Resultat. Während die United-Spieler nach der Pflichterfüllung in Sunderland auf die Vollzugsmeldung warteten, belagerten die Citizens weiter den QPR-Strafraum. Und das Unmögliche wurde tatsächlich erzwungen. Die dramatischste Meisterschaftsentscheidung seit Ewigkeiten. In der 92. Minute traf Dzeko per Kopf, in der 94. Minute Agüero. 3:2. Meister. Und im Etihad Stadium wurden die Glückshormone gleich kiloweise ausgeschüttet. Ich kann mich nicht erinnern, jemals derart starke Emotionen in einem Stadion mitverfolgt zu haben. 44 Jahre Frust, weggesprengt innerhalb weniger Sekunden. Und ich fühlte mich in dem Moment auch ein bisschen als City-Supporter, als würde ich auch seit Jahren auf so einen Triumph warten.

Trotz so vielen Spielen und so vielen Entscheidungen, die Fussballfans schon verfolgt haben, ist es immer wieder einfach nur erstaunlich, was es auslösen kann, wenn man 22 Männern beim Ballspiel zuschaut. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Eine Aktion kann alles auf den Kopf stellen. Für solche Achterbahnen der Gefühle wie gestern muss man den Fussball einfach lieben.

Niedere Gefühle im Fussball

Mämä Sykora am Donnerstag den 10. Mai 2012


Schadenfreude, Rachegefühle, Genugtuung: Zokora kickt Emre zwischen die Beine. (Quelle: Youtube)

Es ging um viel am vergangenen Sonntag in der Partie Trabzonspor gegen Fenerbahçe Istanbul. Fener liefert sich mit Galatasaray einen Zweikampf um den Titel, Trabzonspor will sich direkt für die Europa League qualifizieren. Und für zwei Akteure ging es um noch mehr: Nach der letzten Begegnung dieser beiden Mannschaft beschuldigte der Ivorer Didier Zokora Fener-Star Emre Belözoglu an der Pressekonferenz des Rassimus. Der Türke habe ihn während des Spiels mehrfach als «pis zenci» (auf deutsch: «dreckiger Neger») bezeichnet. Emre gab vor, sich nicht mehr genau erinnern zu können, räumte aber ein, dass solche Worte im Eifer des Gefechts durchaus gefallen sein könnten.

Für ein solches Vergehen sieht der türkische Fussballverband vier bis acht Spielsperren vor, für Emre gab’s dennoch nur zwei. Und dies, obwohl der türkische Internationale schon mehrfach ausfällig geworden war. Alleine in seiner Zeit bei Newcastle meldeten seine Gegenspieler Tim Howard, Joleon Lescott, Joseph Yobo, El-Hadji Diouf und Al Bangoura rassistische Beleidigungen des kleinen Mittelfeldspielers. Dennoch wurde er nie länger aus dem Verkehr gezogen.

Vielleicht war es die Enttäuschung darüber, gewiss lag aber auch eine Portion Wut in jenem Tritt, den Didier Zokora – der schon mit Tottenham mehrmals gegen Emre gespielt hatte – seinem Kontrahenten kurz vor dem Halbzeitpfiff verpasste. Mit Anlauf, mitten in die Weichteile. Eine dieser Aktionen, die Männer mit schmerzverzerrtem Gesicht verfolgen, begleitet von einem «Aaaaaiii», also ob sie selber getroffen worden wären.

Ich dieses Mal nicht, ich muss es zugeben. Es war mehr ein Gefühl der Befriedigung. Vergleichbar mit dem Gefühl, das sich einstellt, wenn etwa der Bösewicht eines dreistündigen Films zum Schluss seiner gerechten Strafe zugeführt wird. Und Didier Zokora in der Rolle des unerschrockenen Rächers. Einer, der den Slogan «Let’s kick racism out of football» etwas gar wörtlich nimmt. Einer, der es selber in die Hand nimmt, sich jenen Spieler vorzuknöpfen, über den ich mich seit Jahren aufrege wie über keinen zweiten.

Unvergessen ist jenes unwürdige Spiel der Schweizer Nati im Sükrü-Saracoglu-Stadion in Istanbul im November 2005. Von der ersten Minute an führte sich Emre schlicht unmöglich auf. Er foulte, provozierte, schauspielerte, rief ständig aus, bedrängte bei jeder Gelegenheit den Schiedsrichter, trat auf auf dem Boden liegende Schweizer Spieler, und kam dennoch mit einer einzigen gelben Karte davon. Seinen Ruf festigte der «Giftzwerg» in den folgenden Spielzeiten, seither steht er in meiner persönlichen Rangliste der unsympathischsten Spieler unangefochten auf dem ersten Platz. Noch vor Treter Pepe, Daniele De Rossi oder Schwalbenkönigen wie Pedro oder Didier Drogba.

Obwohl ich dem schönen Fussball zugeneigt bin, technische Feinheiten lieber sehe als Dauergrätscher mit eisernem Willen, obwohl mir die Fairness über alles geht und ich nicht einmal einen echten Herzensverein habe, können solche Momente wie jener mit Zokora und Emre in den Hauptrollen so richtig niedere Gefühle erwecken. Schadenfreude, Rachegefühle, Genugtuung. Alles dabei. Dank Leuten wie Emre merkt man beim Fussballschauen immer wieder, wie weit man doch davon entfernt ist, ein grundguter Mensch zu sein. Ist vielleicht auch ganz gut so, so hat man immerhin noch Verbesserungspotenzial. Andrerseits: Auf dieses befriedigende Gefühl, wenn ein «Erzfeind» so richtig was abbekommt, will ich eigentlich nicht verzichten. Es dürften sogar noch mehr Emres sein. Vorschläge?