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Nur in der Niederlage kann Spanien noch gewinnen

Claudia Lässer am Sonntag den 1. Juli 2012
Über den Zenit hinaus: Fernando Torres' Spanier müssen ihr Spiel reformieren.

Über den Zenit hinaus: Fernando Torres' Spanier müssen ihr Spiel reformieren.

Meine Freundin drehte sich auf dem Badetuch um, blinzelte über den Rand der Sonnenbrille zu mir rüber und sagte: «Für mich als Laie sind Spiele mit den Spaniern vor allem etwas: langweilig.» Sie hat recht. Die Equipe von Vicente del Bosque betreibt als Offensivfussball getarnten Defensivfussball auf höchstem Niveau. Oder wie der «Spiegel» kürzlich titelte: Tiki-Takanaccio.

Solange wir den Ball besitzen, können die anderen keine Tore schiessen, lautet die spanische Maxime. Weil im Sport der Erfolg über allem steht, ist das legitim. Ob nach 90 Minuten, nach fünf Sätzen oder nach 42,195 Kilometern – der Pokal zählt, nicht der Weg dorthin.

Der Sport, die Börse, das Leben … Zum Glück besteht alles aus Zyklen, grossen und kleinen. Heute Abend geht die vierjährige Fussballherrschaft der Spanier zu Ende. Ob sie ihren Titel verteidigen oder mit hängenden Köpfen vom Rasen watscheln, spielt dabei keine Rolle. Sieg oder Niederlage beeinflussen einzig die Geschwindigkeit ihres Niedergangs.

In seinem kleinen Buch mit dem Titel «Glück» schreibt Wilhelm Schmid, Philosoph der Lebenskunst: «Das erfüllte Leben ist das Atmen zwischen den Polen des Positiven und Negativen. Mit dem, was gut tut, neuen Atem zu schöpfen, gerade in einer problematischen Zeit, in der das Leben eng wird – und auf einer Höhe des Lebens gut vorbereitet zu sein, dass es noch andere Zeiten geben wird.»

Auf die anderen Zeiten sind die Spanier nicht vorbereitet. Der Geschmack des Verlierens ist ihnen fremd geworden. Das Beste, was Iniesta, Torres und Konsorten darum passieren kann, ist eine Ohrfeige, eine deutliche Niederlage. Spanien 0 – Italien 4. Eine Klatsche, die teuflisch brennt und eine rote Backe hinterlässt: «Hola, wacht auf, entwickelt euch weiter!»

Gefangen im Statistik-Dschungel

Claudia Lässer am Sonntag den 24. Juni 2012
Viel Schüsse, aber kein einziger Sieg: Die Holländer sind ein Beispiel für die Schwierigkeiten bei der Interpretation von Statistiken.

Viel Schüsse, aber kein einziger Sieg: Die Holländer sind ein Beispiel für die Schwierigkeiten bei der Interpretation von Statistiken.

Es gibt sie für Einwanderer, Sexpraktiken oder Fusspilz. Also praktisch für alles: Statistiken erklären uns die Welt. In ihnen werden Menschen zu Nummern, Ereignisse verwandeln sich in Prozente, aus Vergangenem wachsen Balken.

Kein Fussballspiel kommt mehr ohne Statistik aus. Als Fernsehzuschauer werden Sie gefüttert mit Angaben zu Ballbesitz, Laufdistanz, Zweikämpfen, Karten, Schüssen, Toren. Erst durch die Interpretation bekommen die Zahlen Sinn eingehaucht. Und genau hier liegt die Krux: Statistiken richtig zu deuten, ist so anspruchsvoll wie Zlatan Ibrahimovics Seitfallzieher. Weil wir Menschen intuitiv Zusammenhänge suchen und nach Mustern schielen, ist die Quote der Fehlinterpretation hoch. So kann sich hinter dem scheinbar Offensichtlichen ganz etwas anderes verstecken:

Holland hat hinter Frankreich und Spanien am meisten aufs Tor geschossen – ein Indiz für die Spielstärke von Oranje oder für mangelnde Geduld? Der Kroate Mario Mandzukic hat in der Gruppenphase die meisten Tore erzielt und am zweitmeisten Fouls begangen – bedingt das Erste das Zweite? Nur ein einziger Penalty in 24 Gruppenspielen – britischer Sportsgeist oder die strenge Hand von Schiedsrichterchef Pierluigi Collina? Neun von zehn Toren fielen durch Schüsse im Strafraum – weil die Ballfertigkeit der Angreifer so gross ist oder weil in den von Disziplin geprägten Taktiken kein Platz mehr ist für Knaller aus 30 Metern?

Was glauben Sie? Noch fallen Ihnen die Antworten wahrscheinlich leicht. Noch. Aber die Halbwertszeit im Fussball ist gering. Nur Stunden nach dem Spiel lösen sich die Emotionen auf. Schon bereits kurz nach dem Turnier verblasst die Erinnerung. Übrig bleiben die nackten Fakten, die in Datenbanken ein düsteres Dasein fristen. Meist sind sie austauschbar: 49 Prozent Ballbesitz hier, 52 Prozent gewonnene Zweikämpfe da. Nur wenige Zahlen haben die Kraft, ein ganzes Spiel zu erzählen und einen Mythos zu nähren, zum Beispiel diese:

667 vs. 325
775 vs. 197
617 vs. 209

Obwohl ich Ihnen rate, Statistiken zu hinterfragen und Analysen zu misstrauen, weil 99,999 Prozent der Bevölkerung komplett falsche Schlussfolgerungen ziehen (ja, gerade auch Experten), gebe ich meinen Tipp ab: Wer zwei-, drei- oder gar viermal so viele Pässe spielt wie der Gegner, verteidigt souverän den Titel. Dagegen nützt die überdurchschnittlich gute Zweikampfquote des Finalgegners Deutschland gar nichts – rein statistisch gesehen. Eben, nur rein statistisch gesehen. Die Wahrheit liegt wie immer auf dem Platz.

Nur ein Spiel, oder?

Claudia Lässer am Montag den 18. Juni 2012
«Am Ende sind wir doch nur Fussballtrainer»: Spanien-Coach Vicente del Bosque. (Bild: AFP)

«Am Ende sind wir doch nur Fussballtrainer»: Spanien-Coach Vicente del Bosque. (Bild: AFP)

«Was würde vom Fussball bleiben, wenn man ihm seine Debatten nehmen würde?» Tiki-Taka-Trainer Vicente del Bosque ist ein bedachter Mann, seine Gedanken sind leise, seine Worte fein. Der Spanier spricht an, was wir Frauen denken: Wie nur könnt ihr Männer wochenlang über Fussball reden?

Vor dem Spiel prophezeit ihr unverschämt und wettet selbstbewusst. Ihr stichelt und zieht die Kumpels auf ­– von wegen elf Freunde müsst ihr sein und das Team geht über alles! Die eigene Position verteidigt ihr mit viel Leidenschaft, rückt keinen Zentimeter davon ab. Und Gegenargumente lasst ihr kühl ins Abseits laufen.

Während des Matchs spielt ihr bevorzugt auf den Mann: Ihr provoziert ungeniert, ja, mit einem Augenzwinkern zwar, gleichwohl direkt ins Gesicht. Ihr drückt den rhetorischen Stollen auf den grossen Zeh, schubst verbal und zerrt am Stolz. Und zwischendurch schreit ihr Zeter und Mordio, als ginge es um alles oder nichts.

Mit dem Abpfiff geht’s erst richtig los: Der, der jubelt, frotzelt laut und ungehemmt, und der, der leidet, verflucht die ganze Welt. Er trauert um die vergeigten Chancen, ringt um Worte und (er)findet Ausreden, die ­– Hand aufs Herz ­– niemand hören will.

Bis tief in die Nacht zappt ihr Männer durch Analysen, studiert frühmorgens schon die Spielberichte im Pendlerblatt und führt während Stunden scharfe Diskurse im Netz. Weil andere Männer die gleiche Begegnung, die gleichen Teams und die gleichen Spieler ganz anders gesehen haben.

Warum bloss, fragen wir uns Frauen. Warum macht ihr es nicht wie, sagen wir, Viviana, meine spanische Physiotherapeutin? Sie sucht sich einen gemütlichen Ort, schafft mit Freundinnen einen emotionalen Raum, zelebriert drei, vier, fünf lustige Stunden und hat Freude, dass sie während eines EM-Spiels Spass haben kann an und mit ihrem Team. Das Resultat und der ganze Rest wird zur Nebensache.

Denn del Bosque sagte an anderer Stelle: «Am Ende sind wir doch nur Fussballtrainer und Fussballspieler, nicht mehr.» Und Fussball ist nur ein Spiel, nicht mehr, ­oder, Ladies?

Claudia Lässer, 35, ist Model, Radio- und TV-Moderatorin. Die Geschäftsführerin des Schweizer Sportfernsehens moderiert den Fussballtalk «Kick it» sowie ihr persönliches Magazin «Close Up».

Von Mannsbildern und Bildern auf Männern

Claudia Lässer am Dienstag den 12. Juni 2012


David Beckham hat «Elle» entjungfert. Als erster Mann zierte er das Cover der britischen Ausgabe des Frauenmagazins. Obwohl der Engländer längst kein ernst zu nehmender Sportler mehr ist, sondern die Paris Hilton des Fussballs: Hot, wie er in der Fotostrecke oben ohne aus dem Wasser steigt!

Der Adonis hat nur zwei Schönheitsfehler, dafür grosse: die tapezierten Arme. Als hätte er sie in ein Tintenfass gesteckt. Tattoos sind ein Mödeli, das in der Fussballwelt besonders stark grassiert und wir aktuell auch wieder an der EM jeden Abend präsentiert kriegen. Die Namen der Kinder. Ein tibetanisches Gebet. Die Autonummer des ersten Supersportwagens. Ort und Datum des 100. Tores. Das Wappen des Lieblingsvereins. Das Porträt der Jungfrau Maria. Jesses Gott, was die Kicker alles unter die Haut spritzen …

So haben sich unsere Eltern im besten Fall Seefahrer, im schlimmsten Fall Schwerverbrecher vorgestellt. Heute gelten Becks, Ramos und Co. als Sexsymbole. Oder sie meinen zumindest, solche zu sein. Zum Körperschmuck hinzu kommen kämpferische Frisuren, stachlige Bärte, protzige Muskeln.

Die Inszenierung der Männlichkeit nimmt zuweilen extreme Formen an – und kippt während der 90 Minuten immer wieder ins Unglaubwürdige. Zum Beispiel dann, wenn die Mannsbilder nicht mehr gestanden sind, sondern fallen wie abgeschossene Schwalben. Wenn sie sich auf dem Rasen winden wie sterbende Schwäne. Oder wenn sie um die TV-Kameras scharwenzeln wie liebestolle Paradiesvögel.

Wollen die EM-Spieler ihren Mann wirklich stehen, gibt es nur einen Ort auf dem Feld: die Mauer*. Hier zeigt sich, ob die harten Kerle haben, was Titan Kahn einst forderte: «Eier, wir brauchen Eier!» Oder ob stattdessen Herz und Mut in die Hosen rutschen.

Geben Sie mal «Fussball Freistoss Mauer» in die Google-Bildersuche ein… Gute Unterhaltung!

Claudia Lässer, 35, ist Model, Radio- und TV-Moderatorin. Die Geschäftsführerin des Schweizer Sportfernsehens moderiert den Fussballtalk «Kick it» sowie ihr persönliches Magazin «Close Up».

Demokratie durch Fussball? Hoffentlich!

Claudia Lässer am Donnerstag den 7. Juni 2012
Sitzt im Gefängnis und ist doch überall: Julija Timoschenko wacht als Ikone über die Euro 2012. (Bild: Keystone)

Sitzt im Gefängnis und ist doch überall: Julija Timoschenko wacht als Ikone über die Euro 2012. (Bild: Keystone)

Gemeinsam Geschichte schreiben. Gemäss dem Euro-Slogan sind Polen und die Ukraine bereit, die Welt zu überraschen. Grzegorz Lato, der Präsident des polnischen Fussballverbandes, verspricht: «Wir liefern unseren Gästen eine einzigartige Erfahrung.» Was für ein Versprechen. Superlative jagt Superlative – wie immer vor einem grossen Turnier.

Vor drei Jahren drohte Uefa-Präsident Michel Platini der Ukraine, wegen Bauverzögerungen die Spielorte in den Westen zu verschieben. Diesen Frühling war er jedoch bereits wieder voll des Lobes: «Was das Land geschafft hat, ist fantastisch!» Zuckerbrot und Peitsche – wie meist bei einem grossen Turnier.

5:3. Die kleine Schweiz tritt dem grossen Deutschland vors Schienbein. Jogi Löws Truppe tut diese Klatsche gut, denn die Boulvardpresse und die DFB-Elf brauchen im Vorfeld ein bisschen Drama, um dann wieder gross aufzutrumpfen. Als Turniermannschaft werden sich die Deutschen von Spiel zu Spiel steigern. Wie sagte Gary Lineker einst so schön? 22 Männer rennen 90 Minuten einem Ball nach und am Ende gewinnen die Deutschen – wie so oft bei einem grossen Turnier.

Schon wieder versinkt Italien im Wettsumpf. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Spieler, Trainer, Funktionäre. Im Vorbereitungscamp untersuchen Fahnder das Zimmer von Domenico Criscito. Trainer Cesare Prandelli wirft den Verteidiger aus der Nationalmannschaft. Die Tifosi sind geschockt, die Squadra Azzurra gelähmt: 0:3-Pleite gegen Russland im Letzigrund. Was zeigt die Vergangenheit? Kriselt es in der Heimat, spielen die Italiener trotzig und erfolgreich – wie auch schon bei einem grossen Turnier. 2006 wurde Italien Weltmeister, 1982 ebenso.

Wegen der Menschenrechtsfrage in der Ukraine fordern europäische Politiker einen Boykott der Euro 2012. In der Diskussion überhören sie leider fast, was die inhaftierte Oppositionspolitikerin Julija Timoschenko durch ihre Tochter ausrichten lässt: Die Europameisterschaft sei ein Symbol für die europäische Integration der Ukraine und biete eine Bühne für den Protest. Demokratie durch Fussball – es wäre das erste Mal dank eines grossen Turniers und beinahe eine romantische Vorstellung.

Gemeinsam Geschichte schreiben. Noch nie war ein Euro-Slogan treffender. Lassen wir uns überraschen. Ich freue mich drauf.

Claudia Lässer, 35, ist Model, Radio- und TV-Moderatorin. Die Geschäftsführerin des Schweizer Sportfernsehens moderiert den Fussballtalk «Kick it» sowie ihr persönliches Magazin «Close Up».