
Distanziert sich von der «Blick»-Berichterstattung: Der italienische Sion-Captain Gennaro Gattuso. (Bild: Keystone)
Wenn es um Fussball geht, meinen manche immer noch, sie könnten alles schreiben. Besonders über Italien, die Lieblings-Zielscheibe unbedarfter Klischee-Berichterstattung. In Bari herrscht zurzeit helle Empörung über einen Beitrag eines Boulevard-Kollegen vom «Blick». Der Bürgermeister hat offizielle Beschwerde bei der Schweizer Botschaft angekündigt, die Angelegenheit steht also im Ruch einer kleinen Staatsaffäre.
Was bisher geschah: Der FC Sion trat am vergangenen Samstag in Bari zu einem Freundschaftsspiel an und verlor gegen die AS Bari 0:1. Aus Sicht der Apulier liest sich die Begegnung so: «Vor einer schönen Kulisse mit über 1000 Tifosi hat die Mannschaft aus Bari dank eines Treffers von Cristian Galano in der ersten Halbzeit gesiegt. Bereits nach vier Minuten hatte Bari die erste Chance, später wurde die Partie vor allem im Mittelfeld ausgetragen. Nach der Pause kamen beide Mannschaften mit einigen frisch eingewechselten Spielern aber an der Dramaturgie änderte sich nicht viel. Bari verteidigte sich sehr ordentlich, riskierte wenig aber zeigte auch ein paar interessante Offensivaktionen.» So weit, so unaufgeregt die Gastgeber vom italienischen Zweitligisten.
Und hier die Schilderung des «Blick»-Kollegen, die inzwischen auf der Website der Zeitung nicht mehr zu finden ist:
«In Kalabrien hat die ‘Ndrangheta, die mächtigste Mafia-Organisation Europas, ihren Hauptsitz. Bari gilt als Hafenstadt an sich schon als kriminelles Pflaster. Und Sion hält sein Testspiel nicht etwa im WM-Stadion San Nicola, sondern muss wegen des miesen Wetters auf einem Kunstrasen spielen. Und der steht mitten im Quartier San Pio. Berüchtigt für Überfälle, Einbrüche, Erpressungen. Mafia-Land eben. ‹Lasst nichts im Auto liegen›, warnen uns einheimische Journalisten. ‹Hier brechen sie das Auto sogar auf, um euren Schreibblock zu klauen. ›»
Den Schreibblock klauen! Liebe Leute vom «Blick», das ist wirklich ein Brüller. Was bitte sollen die Ganoven in Bari mit dem Handwerkszeug eines Schweizer Fussballjournalisten anfangen? Es meistbietend versteigern? Diesen Schatz zu Erpressungszwecken nutzen? Ihn ihrer grossen Sammlung von Schreibblöcken aus dem Ausland zufügen? Oder essen sie einfach das Papier?
Alles ziemlich unwahrscheinlich, in Bari klauen nämlich überwiegend Profis. Und zwar nicht die schlimmen Finger von der ‘Ndrangheta. Diese mächtigste Mafia-Organisation Europas hat ihren Hauptsitz ganz woanders – in Kalabrien, der Heimat des Sion-Captains Gennaro Gattuso. Nicht in irgendeiner kriminellen Hafenstadt, sondern in den Bergen des Aspromonte. In Apulien hingegen befindet sich die vergleichsweise kleine, angestammte Mafia-Organisation Sacra Corona Unita seit Jahren in Auflösung. Man muss das alles nicht wissen, wenn man über ein Fussballspiel in Bari berichtet. Aber für die Mafia-Grusel-Gemeinplätze braucht man heutzutage doch ein Minimum an Recherche.
Bari habe den Sieg geklaut, behauptet «Blick», natürlich mit Hilfe des Schiedsrichters. Man wisse doch, wie so etwas in Italien läuft. «Pikant: Auf das Testspiel konnten auf italienischen Portalen Wetten abgeschlossen werden.» Nein, gar nicht pikant, sondern leider ganz fad: In Italien, und nicht nur dort, können auf alle möglichen Hinterhof-Begegnungen Wetten abgeschlossen werden. AS Bari ist zurzeit in einen Wettskandal verwickelt. Die haben wirklich andere Probleme, als ein Testspiel gegen Sion abzukarten.
«Die Mutter der Idioten geht immer schwanger. Auch in der Schweiz», hat Baris Bürgermeister Michele Emiliano geäussert. Ziemlich harte Worte. Der Mann kennt sich übrigens ganz gut aus mit der kriminellen Szene in seiner Stadt: Bürgermeister Emiliano ist von Beruf Richter. Er will jetzt den «Blick»-Autor verklagen.
Eine derart starke Reaktion auf ein paar Zeilen im Web mag übertrieben erscheinen. Aber in Süditalien reagiert man empfindlich auf Negativ-Klischees, die das Image empfindlich schädigen können. Für die Region Apulien ist die Schweiz ein wichtiger Handelspartner. Umgekehrt gilt das selbstverständlich auch. Deshalb kommt es ja zu Fussball-Freundschaftsspielen.