
Kein Platz für Sentimentalitäten: Coach Dick Advocaat und die russische Nationalmannschaft. (Bild: Keystone)
Zwei der vier Gruppen haben wir nun schon in Aktion gesehen, bis jetzt war noch keines der Spiele die fussballerische Offenbarung, auf die alle Zuschauer an jeder Endrunde warten. Umso schöner ist es deshalb, wenn eine Mannschaft genau das hält, was man sich von ihr erhofft hat. Und das schafften in ihrem Match gegen die Tschechen die Russen, für mich die tollste und schlimmste Mannschaft Europas gleichzeitig.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten zeigten sie jenes Spiel, dank dem ihr an der EM 08 die Herzen zuflogen: schnörkellos, temporeich, gefährlich, erfrischend. Ein Genuss, der Sbornaja zuzuschauen, wenn es ihr läuft. Arshavin gewohnt vielseitig und trickreich, Dzegoev beweist sein Potenzial, Denisov fehlerlos im defensiven Mittelfeld, Shirokov und Zyrianov die Strategen ohne Allüren – da erträgt er es selbst einen Kershakov, der zwar im Zenit-Dress Tore am Laufmeter erzielt, in der Nationalelf aber jeweils zum Chancentod mutiert. (Man verzeihe mir die englische Transkription der kyrillischen Namen, aber es sieht nun mal viel schöner aus als die hässliche deutsche). Es ist ganz einfach eine Freude, diesen Russen beim Kicken zuzuschauen. Sie zeigen jenen Fussball, den wir alle gerne sehen wollen.
Doch sie können leider auch anders. Der Grat zwischen gesundem Selbstvertrauen und unverschämter Nonchalance ist bei den Russen besonders schmal. Auf einen Erfolg wie die Halbfinalqualifikation vor vier Jahren folgen nur zu gerne Ausrutscher mit verheerenden Folgen, wenn sie Spiele auf die leichte Schulter nehmen. In der Barrage der WM-Qualifikation für 2010 scheiterten sie trotz krasser Überlegenheit an Slowenien, in dieser Kampagne folgten der Heimniederlage gegen die Slowakei ein Ausrutscher gegen Armenien sowie zwei Zittersiege gegen Mazedonien. Der Hang zur Selbstüberschätzung wurde auch jetzt wieder augenfällig: Nach dem vermeintlich vorentscheidenden 2:0 gegen die bescheidenen Tschechen sah man in der russischen Offensive plötzlich Absatztricks statt direktem Spiel – was prompt mit dem Gegentor bestraft wurde –, und Jungstar Dzagoev liess direkt nach der Partie verlauten: «Das war der erste von sechs Schritten zum Titel.»
Da sind wir wieder auf diesem schmalen Grat. 2008 kassierten die Russen im ersten Spiel eine 1:4-Klatsche gegen Spanien. Dieser Dämpfer trug viel dazu bei, dass sie in den folgenden Partien sehr konzentriert und engagiert zu Werke gingen und dabei tollen Fussball boten. Für eine derart launische Mannschaft wie die Russen es sind, kann ein Startsieg auch Gift sein. Folgen jetzt solche Auftritte wie jener gegen Slowenien, müssen wir uns nach der Vorrunde dennoch von ihnen verabschieden, obwohl das Team derzeit auf dem Zenit ist und vom Potenzial her sicherlich zu den Halbfinalanwärtern gezählt werden muss.
Ich beneide Dick Advocaat wahrlich nicht. Ich bewundere seine noch einigermassen füllige Haarpracht angesichts der Tatsache, dass ich selber bei so viel Nonchalance längst des Haareraufens wegen zum Yul Brynner geworden wäre. Gegen Tschechien gab es dafür erst wenig Anlass. Es ist ja überhaupt erstaunlich, dass ich das in diesem Spiel hätte machen wollen/müssen. Immerhin stammt mein Vater aus Tschechien, und doch komme ich nicht umhin, auch in so einer Partie für die Russen zu sein. Ganz im Gegenteil zu den Tschechen spielen sie genau jenen Fussball, den ich liebe. Da ist kein Platz für Sentimentalitäten. Und sowieso: Wären die Russen 1968 nicht in Prag einmarschiert, hätte mein Vater nicht flüchten müssen, wäre also nie in die Schweiz gekommen und hätte demzufolge nie meine Mutter kennengelernt. Ohne die Russen würde es mich also gar nicht geben. In dem Sinne: Rossjia, dawaj!
Diese zugebenermassen etwas dreiste Herleitung für meine Russland-Sympathien sorgte auch prompt schon für grosse Verwirrung. In einer EM-Bar schloss ein nicht sonderlich fussballbegeistertes Pärchen im Wissen um meine tschechischen Wurzeln aus meiner euphorischen Reaktion auf Dzagoevs zweites Tor darauf, dass die Roten wohl die Tschechen seien. Würden diese auch mal wieder so toll aufspielen wie die Sbornaja, hätten sie zumindest gute Chancen, meine Gunst wieder zurück zu gewinnen.
Zwar war auch ich begeistert von den Russen gegen die Tschechen. Aber es bleiben zwei Fragen: Wie sieht das gegen einen stärkeren Gegner aus? Die Ceská republika habe ich stärker in Erinnerung. Und: Hält die Sbornaja diesen hohen Rhythmus durch (Durchschnittsalter ca. 30 J.)? Ich sehe die Gefahr eher im Physischen als im Mentalen.
Endlich jemand, der genauso über die Deutsche Transkription der kyrillischen Schrift denkt wie ich. Aber eine kleine Anmerkung noch, die richtige Transkription ist “Zyryanov” und nicht “Zyrianov”. Klasse Artikel übrigens.
Wenn schon Besserwissen, dann bitte richtig. Die wissenschaftlich korrekte Transkription wäre “Zyrjanov”, aber wie man es dann tatsächlich macht, bleibt jedem selbst überlassen. Wichtig ist nur, dass das Z wie im Englischen und nicht wie im Deutschen ausgesprochen wird.
LG, ein Slavist
Kleiner Tip bezüglich Transkription: Nehmen sie doch einfach die tschechische 😉
Die ASCII-Tabelle (ISO 8859-2) gibt das locker her und es sieht authentischer
aus als die englische…
“Man verzeihe mir die englische Transkription der kyrillischen Namen, aber es sieht nun mal viel schöner aus als die hässliche deutsche”… DANKE!!! Fürchterlich das “Dsagoiew-Zeugs”, warum können nicht alle (z.b. Blick) einfach das gleiche verwenden, wie das was auf deren Leibchen steht?
Ich glaube nicht, dass der Schlendrian diesmal diese Equipe stoppen wird. Ich schaue schon seit 30 Jahren Welt- und Europameisterschaften. Neben enttäuschenden Leistungen auch sehr starke russische Equipen, aber auch dann das gleiche Bild: Die Russen mit einer individuell und technisch sehr guten, auch sehr gut aufeinander abgestimmten Equipe, häufig schwergewichtig auf einer Klubmannschaft aufbauend. In den 1980er Jahren war es Dynamo Kiew mit Trainer Lobanowsky. Ihre Spielweise aber erfordert hohen physischen Einsatz, ist sehr kraftraubend, wenn sie ihre koordinierten überfallartigen Angriffe auslösen. Zwischen Viertelfinal und Final immer Ende der Fahnenstange, wenn sie auf Equipen mit einer ökonomischeren Spielweise treffen. Wird diesmal nicht anders sein.
Bei den Russen war das doch schon immer so, vielleicht gilt hier der Vergleich von Genie und Wahnsinn. Eigentlich sind sie perfekte Fussballer und ein grossartiges Team. Dass die Russen absichtlich unberechenbar mal Top mal Flop spielen ist kaum Absicht. Ich vermute eher, dass den Russen bei Druck die Nerven versagen, könnte ja sein?
..die Russen haben keine Nerven….
Ich habe die Russen jetzt ehrlich gesagt nicht so gut gesehen. Eher war Tschechien desolat und Czech hatte einen eher unglücklichen Tag.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie im Viertelfinale Holland, Deutschland oder Portugal schlagen. Ausser die Dänen schleichen sich irgendwie in die nächste Runde, da hätten die Russen sicherlich ihre Chancen.
Talent haben die Russen haufenweise. Ich habe einmal die Beach Soccer WM gesehen, wie sie die Brasilianer weggeschossen haben. Vor allem waren sie wesentlich kompakter aber auch technisch stark im Vergleich zu den individuellen Brasilianern, so ähnlich wie sie jetzt bei der EM spielen. Daher glaube ich, sie können weit kommen, auch weil die etablierten Manschaften ihr taktisches Konzept mittlerweile schon sehr lange praktizieren.
Naja, so gut waren die Russen also wohl tatsächlich nicht…