Die europäischen Städte sind Disneyland geworden

Wer gut arbeitet, bekommt die grosse Belohnung: eine Reise. Das hat Konsequenzen.

Die Chinesen kommen: Eine Reisegruppe mit 12’000 Chinesinnen und Chinesen bereiste diesen Mai die Schweiz. Bild: Urs Jaudas

Ich möchte nicht wissen, wie hart die 12’000 chinesischen Touristen geschuftet haben, wie viel Kosmetiktöpfchen sie verkaufen und wie viele Kunden sie umgarnen mussten, um von der Firma Jeunesse Global mit einer Reise in die Schweiz belohnt zu werden. Ich habe mal Abzeichen für das Rote Kreuz verkauft, als ich in der sechsten Primarklasse war. Bei 50 verkauften Abzeichen, vielleicht waren es auch nur 30, erhielten wir eine Tafel Schokolade. Ich ging am freien Nachmittag von Tür zu Tür, vom Triemli bis an den Lindenplatz, meist öffneten alte Frauen, die mich abweisend anschauten.

Als ich im Dunkeln nach Hause kam, hatte ich vielleicht zwei Tafeln Schokolade verdient. Da wurde mir klar: Ich hatte mich von der Belohnung verführen lassen. Die Füsse wundgelaufen, für zwei Tafeln Schokolade. Es war eine der ersten Lehren, die mir das Leben verpasste. Ich habe nie mehr Abzeichen verkauft.

Die Chinesen hingegen seien zufrieden, steht in der Zeitung. Sie werden zum Rheinfall transportiert, auf den Titlis, zu Uhrengeschäften in Luzern; Belohnungsreisen seien der neue Trend im Tourismus, sagen Fachleute, im Jargon «incentive tours» genannt, man ist glücklich mit den hart arbeitenden Kosmetikleuten aus China, sie geben mehr Geld aus als deutsche Touristen, und wenn sie mit der Firma hier waren, kommen sie später wieder, allein oder mit Familie, heisst es.

Dann reihen sie sich ein in den endlosen Strom, der sich durch Europa zieht. Ein paar Tage nach Ostern war ich in Mailand, vor dem Dom kein Durchkommen, Touristen mit Boutiquetüten und Selfiesticks verstopften den Platz und die Seitenstrassen, in denen die Modeläden sind. Ob Belohnungsreisen, ob Individualtourismus: Die europäischen Städte sind Disneyland geworden. Venedig, Paris, ein einziger Rummelplatz. Ferienrückkehrer aus Rom erzählten uns, man habe fürs Kolosseum tagelang im Voraus online reservieren müssen und einen Slot erhalten mit exakter Uhrzeit, sonst sei man Stunden angestanden.

Ich flüchtete in die elegante Mailänder Metro, ein paar Stationen weg vom Domplatz war Ruhe, die Nachmittagsruhe einer italienischen Grossstadt, verwunschene Paläste des 19. Jahrhunderts, coole Pizzerien, das Leben geht weiter. Die Einheimischen haben den Wahnsinn um den Dom aufgegeben, sie weichen aus, es ist wie mit dem Stau am Gotthard, den man grossräumig umfährt.

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