Rückkehr nach Wiedikon

Zürich hat sich nicht sehr verändert? Wiedikon schon, findet unser Autor.

Wo einst ein Sexhop war, ist heute das asiatische Restaurant Lily’s. Bild: Doris Fanconi

Das muss vor zehn Jahren gewesen sein, als ich das letzte Mal im Konditionstraining war, im Boxclub an der Zentralstrasse, die Kinder waren noch klein. Jetzt haben sie mittrainiert. Liegestützen, Springseile, Hämmern am Sandsack, endlos, bis man die Arme nicht mehr hochkriegt. Ich liebe den Ort. Die farbige Uhr, der Klinkerboden, die unerbittlichen Rufe der Trainer, «wer bloss 96 Prozent gibt, kann gleich in die Garderobe!». Verändert hat sich wenig in den Jahren – das Gebäude aus der Bauhauszeit ist denkmalgeschützt. Was sich verändert hat, ist diese Ecke in Wiedikon. Vor zehn Jahren wars laut und russig, in einem verstaubten Schaufenster an der Weststrasse stapelten sich Laborgläser und Reagenzröhrchen, oben im Haus wohnte eine portugiesische Familie, heute könnte sie die Miete nicht mehr zahlen.

Wo damals die Lastwagen um die Kurve brausten, hat es jetzt einen kleinen Kiesplatz, benannt nach dem Zürcher Ärztepaar Fritz Brupbacher und Paulette Goutzait-Raygrodski, die sich vor hundert Jahren für die einfachen Leute eingesetzt hatten, die Frauen, die Ausgebeuteten. Wo noch vor zehn Jahren die Autostrecke Hamburg–Neapel ganz real durch die Stadt verlief, ist jetzt eine Insel der Erinnerung: für das neue Bauen, für den anarcho-sozialistischen Arzt und seine Frau, für das Licht der Aufklärung.

Weiter vorne, im ehemaligen Sexshop an der Tramhaltestelle, hat sich ein Lily’s eingenistet. Das Lokal war voll, an unserem Tisch unterhielten sich zwei sportliche Frauen über chinesische Medizin, mentale Massage und Kalorienmengen; mit einem halben Ohr zuzuhören, war härter als das Konditionstraining. Links von uns setzte sich ein von der Arbeit erschöpftes Paar hin, gut genährt, im Anzug und im grauen Kostüm. Sie sprachen über Flugverbindungen, Edinburgh, Barcelona – Geschäftsreisen oder das nächste Wochenende? Das ist Zürich, dachte ich, viel Kohle. Dann zwängte sich ein Pulk von kurzgeschorenen Jungs mit Migrationshintergrund zwischen die Tischreihen, denen hätte ich gern zugehört.

In der Gelateria di Berna vorne am Platz machen sie gutes, solides Eis, wie in Italien. Die Belegschaft sprach Berndeutsch, es war seltsam, eine Kugel Nocciola zu bestellen oder eine Kugel Fior di Latte. Ich habe lange zugeschaut, wie sich das italienische Ritual im Zürcher Szeneviertel vollzog, very strange, aber willkommen zurück in Wiedikon.

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