Verlorene Seelen

Die Seele eines Ortes geht verloren, wenn die Menschen nur noch dort wohnen und nicht mehr dort leben.

Für einmal wurde es gestürmt: Das Orstmuseum Dietikon. (Bild: net)

Das Ortsmuseum Dietikon wurde am letzten Sonntag gestürmt. Wo sich üblicherweise ein paar meist ältere Semester vor Schulwandbildern oder Wirtshausschilder darüber unterhalten, wie die Zeiten sich geändert haben, drängelten sich die Leute jeden Alters – es waren sogar ein paar Kinder dabei. Gezeigt wurde ein Film, der vor dreissig Jahren zur besten Sendezeit im Schweizer Fernsehen ausgestrahlt wurde und die Gemüter bewegte. Filmemacher Roland Huber musste danach sogar mit seinem Chef bei der örtlichen CVP vortraben und sich die Kappe waschen lassen.

Roland Huber, der später mit seinen Filmen über die Gebrüder Blocher und die «seven thinking steps» der Frau Martullo-Blocher Furore gemacht hat, drehte 1989 einen Film über das Dorf, in dem er aufgewachsen war. Der Titel: Requiem auf mein Dorf. Die Rahmenhandlung: Ein Leichenzug. Denn sein Dorf, so empfand er es vor dreissig Jahren, wurde damals zu Grabe getragen. Tatsächlich entstand in den 1980er-Jahren nach und nach das, was wir heute als Agglo von Zürich bezeichnen.

Doch was macht ein Dorf zur Agglo? Oder eigentlich besser gefragt: Was macht einen Ort zum Dorf? Roland Huber, mittlerweile pensioniert, war bei der Filmvorführung anwesend und machte sofort klar: «Es sind nicht die alten Häuser, es sind die Begegnungsorte, die fehlen.» Beizen eben wie das neue Bahnhöfli, das katholische Bahnhöfli, wie die kürzlich verstorbene Wirtin Alice Seiler im Film betonte, wo der Einkehrer Gast und nicht Konsument ist, wie im Film ein damals noch ziemlich junger Dietiker sagt. Die Seele eines Ortes ist die Metzg im Quartier, der Beck um die Ecke, vielleicht auch der knorrige Gemeindepräsident, der manchmal eine Fünf gerade sein lässt, oder für manche auch der Pfarrer, durch den die Kirche noch im Dorf ist. Die Seele eines Ortes ist der Schuhmacher, der für ein paar Franken die Winterschuhe abdichtet, der Bücherladen, in dem die Buchhändlerin einem einen Kaffee auftischt und die nächste Ausgabe des Lieblingskrimis schon einmal zur Seite gelegt hat.

Nur: Vieles davon gibt es noch. Noch! Oder würde es gewiss wieder geben, wenn die Menschen eines Ortes auch dort einkaufen, solche Politiker wählen, in solche Beizen einkehren würden. Die Seele eines Ortes geht verloren, wenn die Menschen nur noch dort wohnen und nicht mehr dort leben

4 Kommentare zu «Verlorene Seelen»

  • Joerg Hanspeter sagt:

    @Alejandro Romero: Man muss ja nicht gleich ins andere Extrem verfallen. Ist das Leben den freier wenn ich jedesmal ein Verkehrsmittel benötige, wenn ich mal ein paar Leute treffen will oder etwas Unterhaltung suche? Ihrem Beitrag entnehme ich, dass Siedlungen die nur zum Schlafen benützt werden Ihr Traum von Freiheit sind. Meine Freundin lebt in einem Dorf mit Dorfleben und Veranstaltungen. Man kann da an vielen Sachen teilnehmen, muss aber nicht. Es hat Beizen wo man hingehen kann, aber nicht muss. Mir gefällt das, auch wenn es nicht die angesagte Szene aus Zürich, Basel oder New York beinhaltet.

  • Renato Renfer sagt:

    Exgüsi, Frau Arnet, Ihr Blog wirkt auf mich wie die verstaubten Schulwandbilder über die Sie schreiben. Wissen Sie, die Siedlungs- und Industrie-Linie Dietikon-Schlieren-Altstetten galt schon zu meiner Jugendzeit vor 45 Jahren als ein Unort, wo niemand wirklich wohnen wollte. Von „Dorf“ war schon damals keine Rede, eher von etwas ärmlichen und teilweise schmuddeligen Vororten der Stadt Zürich. Inzwischen sind die Immobilienpreise in der Kernstadt Zürich derart explodiert, dass auch relativ gut Verdienende im Limmattal links der Limmat gerne Wohnungen beziehen. Hauptsache man hat ein solides Dach über dem Kopf und eine gute S-Bahnverbindung nach Zürich-City!

  • Alejandro Romero sagt:

    Heute kann man nirgends in der Schweiz an einem selben Ort leben, lernen, arbeiten, alles einkaufen was man braucht, wie dazu sich noch dort vergnügen und gleichzeitig sich erholen wollen. Das wäre wie etwas freiere Gefängnisse als Kibbuz konzipierte Siedlungen mit dem Traum eines kommunales, kollektives dörflichen rurales Lebens in einem urbanen Raum hinter Stadtmauern. Das ist genau was die Zürcher Linksgrünen Linksgrünen sich als Stadt vorstellen. Will ich so leben? Völlig weltfremd.

    • tina sagt:

      ja komisch. ich lebe in züri und hier hat es exakt das alles am selben ort. linksgrünlinksgrün halt ;-). ich nenne es dorf

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