Was niemand erfahren durfte

Stellen Sie sich vor, den ganzen Kanton Aargau hätte es verstrahlt! (Symbolbild: Thomas Egli)
Haben Sie den Dokfilm «In the Age of Tomorrow Danger» schon geguckt? In diesem Film aus Schweizer Produktion geht es um einen Ernstfall, der sich gegen Ende der 90er-Jahre abgespielt hat. Der damalige Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz hätte aus Versehen fast das mittlerweile stillgelegte KKW Kulm in die Luft gesprengt.
Anlässlich der 20-Jahr-Betriebsfeier wurde im Kontrollraum eine Weindegustation organisiert. Der sympathische Romand sagte «Oh, là, là» und soff sich natürlich die Rübe weg. Dann berührte er unabsichtlich den roten «Nicht berühren»-Knopf. Zum Glück war der Knopf nicht am Stromkreis angeschlossen, sonst wäre der ganze Aargau verstrahlt worden. Ich wohnte damals übrigens in Baden.
Das Ungeschick hat in Sachen Sicherheitsprävention viel ausgelöst. Das KKW Kulm hat als erstes Kernkraftwerk eine strikte 0-Promille-Grenze eingeführt.
Seit diesem Malheur ist mein Vertrauen in die Bundesräte auf null gesunken. Einem Bundesrat, der mich beinahe verstrahlt hätte, will ich mein Leben nicht anvertrauen. Der Zwischenfall im Kontrollraum ist übrigens erst Monate später an die Öffentlichkeit gelangt. Anfänglich hiess es, man wolle «sicherheitspolitische Informationen» nicht an die grosse Glocke hängen. Dann trat ein Pressesprecher, der später Karriere in der Pharma machte, vor die Kameras und log: «Der rote ‹Nichtberühren›-Knopf war mit ‹Plus du vin› angeschrieben.»
Das hat mich am meisten bestürzt. Der Bundesrat säuft im Kontrollraum, und niemand darf das erfahren? Ich war damals knapp 20 Jahre alt und wusste natürlich sofort, welchen Beruf ich ergreifen muss: Journalist. Nie wieder, schwor ich mir, dürfen Fake News den Diskurs in der Öffentlichkeit bestimmen. Wir Journalisten decken auf und überprüfen alle Fakten, bis sie stimmen. Das kostet natürlich Geld.
Leider gibt es in der Schweiz immer weniger Journalisten. Verlage machen dicht und entlassen die besten Journalisten. Am 21. Dezember erscheint leider die letzte Ausgabe von «Blick am Abend». Elf Journalisten haben die Kündigung erhalten. Das Recherchemagazin hat zu meiner täglichen Lektüre gehört. Ich mochte das Kreuzworträtsel am meisten.
Der 21. Dezember wird ein trauriger Tag sein. Ich wünsche meinen Kollegen alles Gute.
3 Kommentare zu «Was niemand erfahren durfte»
Schön, dass Ihnen, Hr. Frenkel, die Solidarität noch nicht vergangen ist. Daher verzeihe ich, dass die Kolumne eher bitter als witzig ausgefallen ist. Dass ich den Tagi noch immer abonniert habe, trotz neuer Schikanen (Adblocker ausgehebelt z.B.) wird wohl auch nicht mehr lange etwas nützen.
Da wurde heute/gestern wieder ein gravierender längerer Vorfall beim AKW Leibstadt gemeldet. Vorfall datiert Frühling 2018. Haarsträubend. Wurde praktisch nicht berichtet in den Medien. Fendant und „Blick am Abend“ trifft die Sache auf den Punkt. Wäre ich Modedesigner, würde ich Strahlenschutzanzüge (für die Laufstege) designen.
Atomkraftwerke sollten zwingend durch Kollektivgesellschaften von mindestens zehn natürlichen Personen betrieben werden, denn sie verlangen einen besonders hohen Grad der Verantwortlichkeit. Ähnlich wie früher bei den Privatbanken. Aber solange irgendwelche Staatsbürokraten am Werk sind, müssen wir unsere Erwartungen natürlich herunterschrauben. Denn ein Beamter oder Politiker wird nie so sorgfältig vorgehen wie ein Unternehmer, dessen ganzes Vermögen und berufliche Zukunft auf dem Spiel steht.