Es jubelt immer jemand

Weil die Bevölkerung in der Agglo bunt gemischt ist, haben während der WM alle Teams ihre Fans.

In der Agglo haben alles Teams ihre grossen und kleinen Fans. Foto: Valentin Flauraud (Keystone)

Mag sein, dass ich hier, in dieser Rubrik, die Agglo zuweilen etwas geschönt darstelle. So wie man eben dazu neigt, das Positive hervorzuheben und das Negative unter den Teppich zu kehren, wenn man sich für etwas einsetzt, dem nicht per se die Sympathien zufliegen. Es gibt aber eine Zeit, in der mein Lob der Agglo ganz und gar dem entspricht, was ich schreibe: wenn Fussball-Europameisterschaften oder Fussball-Weltmeisterschaften sind.

Und zwar deshalb: In der Vorstadt, in der ich lebe, ist eben alles ein bisschen gedrängter und durchmischter als im schönen Zürich. Für eine Seefeldisierung hat es hier gar keinen Platz. Und für eine Langstrasse auch nicht. Arm und Reich, Inländer und Ausländer, aber auch Strassenverkehr und Fussgängerzone – so es sie denn gäbe -, sind hier so nahe beisammen, dass dafür das despektierliche Wort «Siedlungsbrei» erfunden wurde. So hat vor kurzem ein ansonsten geschätzter Stadtzürcher Kollege uns im Zusammenhang mit dem Formel-E-Rennen der Agglo ebendieses an den Hals gewünscht, da bei uns ja ohnehin schon Hopfen und Malz verloren sei. Nicht ganz so krass, aber so ungefähr hat er es formuliert.

Dieses Gedrängte, dieser «Brei», entwickelt aber zuweilen einen ungemeinen Charme. Eben zum Beispiel dann, wenn Fussball-Europameisterschaften oder Fussball-Weltmeisterschaften stattfinden. Denn dann sind eben die Fussballfans fast aller Länder auch nahe beieinander. Und die Public Viewings. Im Zentrum meiner Agglo-Vorstadt gibt es zum Beispiel deren sechs – ein ganz grosses und fünf kleinere – in einer Fussdistanz von drei Minuten. Sie sind alle gratis, also einfach an den Konsum eines Biers oder vielleicht auch zweier gebunden. Wobei sich die wundersame Biervermehrung oft mehr aufgrund des freien Willens der Gäste als des Konsumzwangs des Gastgebers ergibt.

Kommt als belebendes Element dazu, dass die diversen Projektionsgeräte verschieden schnell Bilder liefern, denn im digitalen Zeitalter ist «live» ein dehnbarer Begriff geworden. So ist es im Zentrum meiner Agglo-Vorstadt so, dass die Tore aufgrund der grossen Public-Viewing-Dichte zeitverschoben fallen. Wenn man von der Bar an der vorderen Ecke das Jubeln hört, stehen dem Publikum auf dem zentralen Platz immer noch die Haare zu Berge ob des grauenvollen Verteidigungsfehlers. Oder sie halten beim Sturmlauf aufs gegnerische Tor den Atem an. Und so wird der Moment des Triumphs wunderbar lang, weil er sich akustisch schon angebahnt hat. Oder die bittere Pille vergeht langsamer auf der Zunge. So oder so hat man mehr davon.

Da in meiner Agglo die Bevölkerung so bunt gemischt ist, gibt es beim Sieg fast jeder Mannschaft Jubel. Was den Ärger über eine Niederlage mildert, weil man sich ja mitfreut, wenn der sonst so zurückhaltende Nachbar aus Portugal oder die nette Kioskfrau aus Serbien sich so unbändig freut. Und wenn die Schweiz siegt – oder gegen Brasilien unentschieden spielt, versinken wir in einem kollektiven Multikulti-Freudentaumel. Zumal die Italiener an dieser WM auch Schweizer sind.

2 Kommentare zu «Es jubelt immer jemand»

  • Peter sagt:

    Das war immer sehr lustig. Als nicht-Fussballinteressierter schaute ich was anderes und jedesmal wenn wieder irgendeiner jubelte schnell umschalten, feststellen wer gerade getroffen hat, dann zurück und so musste man sich am anderen Morgen nicht als Depp hinstellen lassen.

  • Thomas Marthaler sagt:

    Ein schöner, treffender Artikel. Bravo!

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