Der Tagesschulschwindel

Ist die Tagesschule ein Zürcher Auslaufmodell? Bild: Dominique Meienberg
Von den unzähligen Vorlagen, über die wir am 10. Juni abstimmen, raubt mir eine den Schlaf. Meine Freunde verstehen mich nicht, «was gibt es zu diskutieren?», sagen sie. Es geht um die Tagesschulen.
Als meine älteste Tochter in die Primarschule kam, hätten wir sie gern in eine Tagesschule geschickt. Das Konzept gefiel uns: Nicht die Klasse, sondern die Schule formt den Alltag der Kinder. Die Grossen schauen auf die Kleinen, sie essen zusammen, machen Aufgaben, beteiligen sich an Projekten mit Musik und Theater.
Bloss, wir wohnten in Wiedikon. Und dort gab es in den Nullerjahren keine Tagesschule. Im Schulkreis Limmattal wurde eine einzige Tagesschule geführt, sie nahm 60 Kinder auf. Das Los entschied, wer reinkam. Es wurde über Schieberei gemunkelt.
Wer damals in Zürich Kinder hatte, musste sich organisieren, nicht einmal Hortplätze waren garantiert. Zwar waren zwischen 1980 und 1993 neun Tagesschulen und Schülerclubs entstanden, aber sie blieben Kathedralen in der Wüste. Erst nach einer Abstimmung im Jahr 2005 wurden die Schülerhorte stark ausgebaut.
Als wir nach Wollishofen zogen, wurden die Kinder in die Tagesschule Neubühl aufgenommen. Man steigt dort in Kleinklassen ein, später werden die Kinder wie in einer Dorfschule mit älteren Schülern zusammengelegt. Sie essen in Kleingruppen mit ihren Lehrern, machen gemeinsam Aufgaben.
Jahrelang haben wir in dieser Idylle gelebt. Bis wir an einen Informationsabend eingeladen wurden: Wir seien ausgewählt worden, am Pilotversuch der «Tagesschule 2025» mitzumachen.
Uns war das nicht geheuer. Vom Geist der «alten» Tagesschule fanden wir wenig im Projekt 2025. «Wir brauchen keinen Pilotversuch. Es gibt uns schon», sagten wir dem Schulkreispräsidenten. «Gerne würden wir weitermachen wie bisher.» Da erfuhren wir, dass ab August im Neubühl keine Kinder mehr in die «alte» Tagesschule aufgenommen werden. Die Politik hatte dieses Modell abgeschafft. Beibehalten hat sie einzig den Namen.
Von da an gingen wir an alle Schulversammlungen, sprachen mit Stadtrat Lauber, mit Gemeinderäten, aber überall wurde uns gesagt, ihr seid zu teuer, zu aufwendig, aus einer anderen Zeit. Und übrigens, wissenschaftliche Untersuchungen sprechen gegen euch.
Eine Studie des Nationalfonds hatte ergeben, dass Tagesschüler nicht bessere Noten haben als Kinder aus der Regelschule. Aber die Studie wies auch darauf hin, dass die Tagesschulen das Potenzial hätten, die Kinder zu fördern. Doch hätten sie sich mehr auf Betreuung konzentriert als auf Bildung.
Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Die Tagesschule ist in Ordnung, sagt die Studie, sie könnte sich weiterentwickeln. Aber das interessiert die Zürcher Schulpolitik nicht mehr. So stirbt durch die flächendeckende Einführung der neuen «Tagesschulen» das letzte wahre schulische Reformmodell der Stadt. Ich weiss nicht, ob ich im Juni Ja stimmen soll für diesen Schwindel. Auch wenn all meine Freunde dafür sind.
20 Kommentare zu «Der Tagesschulschwindel»
EIn Konzept für 2025 ist nur absurd. Es ist aber üblich, dass man die jetzige Realität und Praxis vernachlässigt und sich irgendwelchen utopischen Theorien widmet, die viel kosten und viele Leute beschäftigen. Wie kann man jetzt schon ausrechnen, was 2025 ein Mittagessen kostet, statt die momentanen Probleme zu lösen!?!
Erschütternd was die Politik da ausgearbeitet hat. EinKompromiss derSchaden anrichtet anstelle die echteNachfrage zu stillen nach mehr geschilderter Tagesschulen. Mir persönlich war der Hot nachBedarf dienlich. Dass das unter Umständen sehr teuer sein kann braucht mehr Recht Subventionen beantragen zu dürfen. Diese Lösungen sind Nachhaltiger als alle zu subventionieren mit einem Preisdruck à la Massentierhaltung, Pausenraum- Beben&das verkrampft politisch korrekte Mittagessen. Mobbing à Diskretion. Davor kann sich nur retten wer neben der Schule wohnt. Der Schulweg (2mal 15 min) wurde weggekürzt. Zwanghaft wurde auch damit der Preis pro Kopf um satte 3.- gesenkt. Bravo!! Die Qualität hat exponentiell hoch 2 nachgelassen. Ein böser strategischer Kompromiss. Mutiges Nein wäre Angebracht!
ich korrigiere meinen vorherigen beitrag, falls er publiziert wird: die mittagspause werde tatächlich gekürzt, von 110 auf 80 minuten. wo SvW um 10 minuten übertrieben hat, habe ich um 10 untertrieben.
die schulnachmittage werden aber dafür kürzer. meine söhne jedenfalls rissen sich nicht um einen langen mittag sondern hätten lieber früher aus gehabt.
Ich schliesse mich Herrn Marcuse und Frau Fumagalli an. Nach meiner Erkenntnis ist der Umbau gemäss Vorlage Tagesschule 2025 eine reine Sparveranstaltung auf Kosten des Wohlbefindens der Kinder! Es geht nicht um kindesgemässe Förderung, sondern um Sparen durch Massenabfertigung. Alles unter dem eigentlich positiv besetzten Begriff „Tagesschule“ – eine Frechheit, hier werden gute Ansätze knallhart zerstört. Ein Armutszeugnis für ein reiches Land wie die Schweiz! Sind unsere Kinder so wenig wert? Hat nur die Wirtschaft das sagen? Peinlich Schweiz! Das Schlimme ist auch bei einem NEIN wird alles erreichte zurückgebaut ins letzte Jahrhundert! Geschickte Erpressung des Stimmvolks. Leider interessiert viele (Eltern) dieses Thema nicht…
Sie sorgen sich um Kindesgemässe Förderung, Frau Reimann ? Dann kümmern sie sich um das oder die Kinder die Sie wollten und sourcen sie diese nicht an eine externe Institution aus. Peinlich ihr Aufschrei .
ausgehend von meiner gestern hier angedeuteten haltung und euren kritischen texten, habe ich nun nachgeschlagen:
ich las von 80 minuten mittagspause. das waren doch immer nur 90 minuten? 12-13.30. kommts echt auf die 10-15 minuten an?
das angebot sei freiwillig! und dafür extrem erschwinglich (6.–/mittagessen)
Meine Tochter ging in den USA sieben Jahre in eine Tagesschule. Je nach Klasse von 0745 -1445 oder 0845 – 1545.
Mittagspause 45 min. Keine Probleme.
Von wegen die Grossen helfen den Kleinen.
Hackordnung wie überall.
Zwei unserer drei Kinder gehen in die Schule Schauenberg, die am Pilotprojekt mitmacht. Ein Fazit nach 1 1/2 Jahren. Für die Kinder spielt es keine Rolle. Wichtig für den schulischen Erfolg sind andere Faktoren: Das Kind selber, die Eltern, die Lehrpersonen, die Klasse.
Es geht viel mehr darum, ob die Tagesstruktur für die Eltern einfacher wird, weil die Kinder für das Mittagessen nicht nach Hause kommen. Schieben wir also keine Studien vor, die irgend einen Effekt für die Kinder belegen sollen, sondern stehen wir dazu, dass der Tag einfacher ist, ohne Kinder zu Hause oder dass wir es gerne haben, mit den Kindern gemeinsam am Mittagstisch als Familie zu sitzen…
ist es nicht so, dass die „neuen tagessschulen“ eben für alle da sind, und nicht für die ausgeloste elite? ich und alle anderen erwerbstätigen eltern wären wahnsinnig froh um plätze in der tagesschule gewesen.
es ist für mich nicht nachvollziehbar, warum ein altes, funktionierendes modell abgeschafft werden muss. aber allen anderen die tagesschule vorenthalten, das kanns ja nicht sein
Ich werde Nein stimmen. Und es ist mir egal ob andere dafür sind. Es scheint mir es gibt immer weniger Eltern die sich noch um die Kindern kümmern wollen. Effizienzsteigerung wirkt sich negativ aus auf die Kinder, das verkraften nicht alle.
Hallo Stefan, ich bin deiner Meinung!!!
ja genau, alle eltern stecken die kinder in die schule, statt sich selbst um sie zu kümmern gällensie.
stefan, bist du denn jeden mittag zuhause um deine kinder zu erziehen? und natürlich nur über mittag, wochentags. alle anderen zeiten gibts gar nicht
Wer will denn unbedingt Kinder haben und Arbeiten ? Der Mann oder die Frau ? Man kann bekanntlich nicht alles haben im Leben, aber das haben die Frauen noch nicht wirklich gemerkt.
Meine zwei Töchter waren an einer Privatschule weil die Politiker im Kanton Zürich unfähig sind die Tagesschulen flächendeckend einzuführen. Wir haben beide studiert und wollten auch beide arbeiten, deshalb brauchten wir die Tagesstruktur. Über die Experimente in der Stadt Zürich muss ich jeweils lachen; geht doch einfach mal einen Tag zu einer Privatschule schauen wie es dort schon seit Jahrzehnten läuft, kopiert das und führt es eine Woche später ein. Aber eben man müsste über den Tellerrand schauen und davor hat man zu grosse Angst.
Von welcher Privatschule kann die Volksschule was lernen? Unter unveränderten Rahmenbedigungen (Klientel, Finanzen, Lohn der Lehrer)?
Na na… wir vom Lande träumen von solchen Angeboten.
Aber ja klar: die Schweiz ist schon eine Bildungswüste und unser Sozialstaat rettet Banken und die reiche Schweiz hat ein Hauptziel: tiefe Steuerfüsse.
PS: Ich arbeite in der Betreuung und weiss von was ich spreche.
– Zunahme der Entmündigung von Kindern und Eltern
– Bedürfnisse der Kinder stehen nicht an erster Stelle, sondern die Wirtschaft
– Führt zur Überreizung der Wahrnehmung und bietet zu wenig Rückzugsmöglichkeit
– Schlechte Voraussetzungen für sensible Kinder
– Suboptimale bauliche Bedingungen in den meisten Schulhäusern
– Massenabfertigung über Mittag (Schichtessen und Mittag neu 90min pause)
-Mittagessen im Schulzimmer bei Platzmangel
– Mehrbelastung der Lehrpersonen: sie übernehmen auch über Mittag Betreuungsaufgaben
– Je grösser die Schuleinheit desto schwieriger den
Kinder gerecht zu werden
– Unterschiedliche Qualität der Tagesschulen, da jede Schuleinheit selber gestalten kann
– Tagesschule ein Angebot, kein Muss: zwischen den Zeilen aber obligatorisch
Ich stimme NEIN
Die Einführung der Tagesschulen als verkappte Sparmassnahme muss im Interesse der Kinder verhindert werden. Die Massenkindhaltung ist ethisch nicht vertretbar.
Ein nein bringt das alte Tagesschul Modell auch nicht zurück. Ich verstehe die Diskussion sowieso nicht. Der grössere Nutzen liegt doch darin, dass Erwerbstätige nicht am Mittag nach Hause gehen müssen um zu kochen.