Haben Sie kurz Zeit?

Die Hochzeit droht zu platzen, die Fruchtblase ist es bereits. Und mitten drin: Beni Frenkel – und sein Geld.

Eigentlich wollte Beni Frenkel nur ein letztes Bier saufen. (Bild: Doris Fanconi)

Es ist spät in der Nacht. Wir stolpern durchs Niederdorf auf der Suche nach einer Beiz, die nach Mitternacht noch offen hat. Aus einer Seitengasse sehen wir einen wild gestikulierenden Mann. In seiner Hand ein Smartphone. Er weint fast. «Ja, Schatz, ja Schatz.» Da entdeckt er uns und fleht: «Meiner Freundin ist gerade das Fruchtwasser geplatzt! Habt ihr mir fünf Franken für ein Taxi?» Wir gucken uns erschrocken an. Eigentlich wollten wir mit dem letzten Geld ein Bier saufen. Aber da ist ein Mann in grosser Not. Wir kratzen alles zusammen und kommen auf neun Franken. Hier, du Ärmster.

Ich habe dem Kerl natürlich kein Wort geglaubt. Fruchtwasser geplatzt! Das kann jeder behaupten. Andererseits bin ich von dem Kerl tief beeindruckt. Denn ich muss manchmal auf der Strasse Umfragen machen. Ich getraue mich nur schwer, die Menschen anzuhauen: «Entschuldigung, mein Name ist Beni Frenkel. Ich bin Journalist. Hätten Sie kurz Zeit für ein paar Fragen?»

Die meisten haben leider nie Zeit. Alles ist scheinbar wichtiger als meine Fragen. Nur die älteren Leute hören mir zu. Um das Eis zu brechen, habe ich bei meiner letzten Umfrage Schokoladeherzchen verteilt. Das hat gut funktioniert. Die Menschen haben gierig nach dem Süssen gegriffen und meine dämlichen Fragen beantwortet.

Aber ich hätte nie – nie! – den Mut, die Menschen anzuschreien: «Meiner Frau ist gerade das Fruchtwasser geplatzt! Welche Partei würden Sie am nächsten Sonntag wählen?» Dazu fehlt mir das nötige Selbstvertrauen. Und die Chuzpe.

So wie letzte Woche in der Synagoge. Ich höre von hinten eine Stimme: «Rabbi Frenkel?» Erstaunt drehe ich mich um. Vor mir steht ein alter, kleiner Rabbiner mit verfilztem Bart. Er stellt sich vor. Er heisse auch Frenkel und komme aus Israel. Ob wir vielleicht verwandt seien, will er wissen. Ich gucke ihn an. Wohl kaum. Er versucht es trotzdem. «Wo hat Ihr Urgrossvater gelebt?» Keine Ahnung. Russland? «Wirklich? Meiner auch! Wir müssen verwandt sein!»

Ich gebe mich geschlagen und mustere meinen neuen Verwandten. Wir haben tatsächlich die ähnliche Nase und einen vergleichbaren Bauch. Mein Cousin irgendwelchen Grades beginnt zu erzählen. Seine Tochter heirate ja bald. Aber die Hochzeit sei in Gefahr. Ich fahre erschrocken zusammen. Die Hochzeit der Tochter meines Verwandten droht zu kippen? «Ja, leider», fährt der Rabbi fort und blickt mir direkt in die Augen: «Wir haben zu wenig Geld für den Saal und das Essen.» Ob ich nicht helfen könne? Also, von Frenkel zu Frenkel? Tief ergriffen plündere ich mein Portemonnaie.

Er zählt mein Geld zusammen. Die Noten verschwinden in der Innentasche seines Mantels, die Münzen landen in der Hosentasche. Dann entdeckt er den nächsten Verwandten. Jemand flüstert ihm den Namen des Opfers ins Ohr. Der Rabbi ruft: «Rabbi Bollag?»

3 Kommentare zu «Haben Sie kurz Zeit?»

  • Ulrich Oswald sagt:

    Johnny, be good, be tov, be good!

  • Philipp M. Rittermann sagt:

    ich spende nur noch für tiere. die können nichts für alles, sind (meist) niedlich und gehen einem – im gegensatz zum menschen – nicht auf den sack. auch nicht mit um mitternacht vermeintlich geplatzten fruchtblasen.

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