Raus aus der Stadt – aus Liebe

Die Stadt Zürich ist am allerschönsten als Sehnsuchtsort. Das funktioniert auch, wenn die Sehnsucht Heimweh ist.

Für die Agglos konzentriert sich Zürich optisch und emotional auf den prachtvollen Ausblick von der Quaibrücke oder die Oper für alle. Bild: Doris Fanconi

Vor kurzem gab an dieser Stelle ein geschätzter Kollege, der demnächst aus der Stadt Zürich in die Agglo zieht, Einblick in sein arg gebeuteltes Innenleben zwischen Vorfreude und Abschiedsschmerz. Zum einen Vorfreude auf das neue Wohnen mit mehr Raum und näher beim See – man merke, der neue Kollege zieht in die Edel-Agglo. Zum andern der nagende Zweifel, ob dies den Abschied von der Stadt und dem trendig urbanen Umfeld aufwiege.

Vielleicht kann ihn die Einsicht einer Agglo-Expertin etwas beruhigen. Diese Einsicht wurde in lebenslangem Agglo-Dasein gewonnen – und man merke – in der Proleten-Agglo. Die Einsicht lautet: Die Stadt Zürich ist am allerschönsten als Sehnsuchtsort. Das funktioniert auch, wenn die Sehnsucht Heimweh ist. Es beginnt damit, dass derjenige, der sich nach der Stadt sehnt, aber in der Agglo wohnt, in der Stadt keine Wohnung suchen muss. Er stellt sich einfach in seinem bezahlbaren komfortablen Agglo-Heim vor, wie es wäre, wenn er in der Altstadt in einer geräumigen Attikawohnung leben würde. Traumhaft schön wäre das. Und absolut unrealistisch ist das.

Er muss sich nicht über Nicht-Stadtzürcher und Nicht-Stadtzürcherinnen ärgern, die sich anmassen, auf Stadtzürcher Strassen zu fahren, auf Stadtzürcher Parkplätzen zu parkieren, in Stadtzürcher Geschäften die Schlange vor der Kasse zu verlängern, in Stadtzürcher Trendlokalen die Plätze zu besetzen. Denn er ist ja einer von ihnen, also eben von den anderen.

Für ihn konzentriert sich Zürich optisch und emotional auf den prachtvollen Ausblick von der Quaibrücke oder der Polyterrasse aus, auf die Auslagen der Delikatessenabteilung, auf das schmucke Niederdorf, auf das Feierabendbier im Café Voltaire, die ruhige Insel des alten Botanischen Gartens, die Frauenbadi oder Frau Gerolds Garten. Auf den Schiffbau und die Oper für alle – die Aufzählung unterscheidet sich je nach Liebhaberei des Nicht-Stadtzürchers oder der Nicht-Stadtzürcherin.

Doch es geht weiter: Als Nicht-Stadtzürcherin ist es ein Leichtes, die verpissten Unterführungen am Schanzengraben und den Velotunnel an der Langstrasse auszublenden. Sie bezahlt ohne mit den Wimpern zu zucken die überhöhten Preise für Kaffee und/oder ein Glas Rotwein – man ist ja eben in der teuren Stadt. Die Gentrifizierung des Kreises 4 lässt sie kalt – ausser es sei gerade Caliente.

Aus der Agglo betrachtet, sind auch besetzte Häuser, wöchentliche Demos, Krawallbrüder an Fussballmatches und lärmende Festbrüder und -schwestern mehr Unterhaltung als Ärgernis. Das gehört eben zum urbanen Leben, sagt man sich. Und vergisst es. Denn wer sich nach der Stadt Zürich sehnt, fokussiert auf ihre schönen Seiten und blendet die anderen aus. So gesehen, bedeutet das, geschätzter Kollege: Wer die Stadt Zürich wirklich liebt, zieht in die Agglo.

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