Alles andere als langweilig

Ein leeres Zimmer im Zürcher Asylzentrum Juch: Hier entstehen Biografien, die Zürich prägen. (Foto: Keystone/Gaetan Bally)
Man hört so viele gute Geschichten in unserer Stadt, dass man an einem einzigen Tag den Notizblock vollschreiben könnte. Aber eben – man kann nicht alles an die Öffentlichkeit tragen. Man möchte sich nicht den Ruf ruinieren und durchs Leben gehen als ein Mensch, um den alle einen Bogen machen: «Nimm dich in Acht, wenn du den siehst. Sonst stehts am nächsten Tag in der Zeitung!»
Und trotzdem. Gewisse Geschichten, die nagen an einem. Die muss man erzählen, anonymisiert bis zur Unkenntlichkeit. In der Hoffnung, dass etwas herüberkommt vom Staunen, von der Verzauberung, die man spürt, wenn man sie das erste Mal hört. Wie die Geschichte meines osteuropäischen Freundes, aus einem Land, das ich eben nicht benennen möchte. Ein Land mit einer herzlichen, begeisterungsfähigen Bevölkerung, mit einem Hang zu grossen Gefühlen und elenden Abstürzen.
Diese osteuropäische Familie also strandet während des Kalten Kriegs in Zürich. Der Vater ist Businessman, die Mutter hilft im Geschäft, und so ist ihr Sohn, mein Freund, tagsüber sich selber überlassen, manchmal bis spät in die Nacht. Er geht ins Gymnasium, mittags isst er in den besten Restaurants der Stadt, mit dem Wochengeld, das die Eltern ihm reichlich zugeteilt haben, damit er sich anständig verpflegen kann.
In einem der Lokale lernt er einen anderen Mittelschüler kennen, einen Einheimischen aus gutem Haus, sie freunden sich an und träumen vom Aufstand gegen das Bürgertum, es ist die Zeit der Pariser Unruhen im Mai 1968. «Continuons le combat!» – «Fräulein, gern noch ein Stück vom Braten!»
Aber noch habe ich nichts erzählt von der spanischen Artistenfamilie, die in der Schweiz gelandet ist, nach Francos Tod, als sich das Land modernisierte und die kleinen Zirkusbetriebe auf dem Land hartes Brot assen. Am selben Tag hörte ich noch die Geschichte von der Bündner Grossmutter, die nach Zürich durchbrannte, um dort ihr uneheliches Kind allein durchzubringen, ein Klassiker, der ein paar Seiten des Notizblocks füllen würde.
Die Stadt ist ein Melting Pot, und wir erzählen unsere Geschichten, um zu wissen, wo wir herkommen, zu verstehen, was mit uns geschieht. Dabei haben wir noch gar nicht gesprochen von den Geschichten der frisch Angekommenen, die erst einmal verschnaufen, wieder anfangen zu leben, die Geschichten der Syrer, der Eritreer, bis die erzählt werden, dauert es noch ein paar Jahre.
32 Prozent Ausländer und Ausländerinnen leben in der Stadt, stand kürzlich in der Zeitung, die Deutschen haben die Italiener überholt, Englisch wird die zweite Umgangssprache. Es ist so viel in Bewegung, wo wird alles enden? Und dann lesen wir, dass es vor hundert Jahren noch mehr Ausländer waren, die hier lebten, 34 Prozent, wie viele Notizbücher wären das?
Irgendwann möchte ich richtig ausholen und all die Pseudonyme fallen lassen, die Anonymisierungen und das Buchstabengepixel der Unkenntlichkeit. Dann werden die Leute sagen: Das graue Zürich, es ist alles andere als langweilig.
2 Kommentare zu «Alles andere als langweilig»
1934 gehörten unsere Grosseltern schon nicht mehr dazu: wandernder Zimmermannsgeselle aus Thüringen und Köchin aus Baden-Württemberg. Sie hatten sich 33 einbürgern lassen wegen des Heil-Hitler-Geschreis in Deutschland…. Leider haben sie mir nur wenig erzählt über ihr Leben, war wohl noch zu jung. Tatsache ist, Migration war damals üblich und nicht so kompliziert wie heute. Allerdings wohl auch nicht so international, sondern eher Europa intern. Auch damals kamen viele „Fachkräfte“ z.B. Brauer in die Schweiz und gründeten auch Gewerkschaften. Viele spannende Geschichten!
Interessant, dass oft wenn in den Medien in CH von Ausländern, eingewanderten, integrierten Ausländern gesprochen wird gleich die Wörter Italien, Spanien,Portugal kommen. Mit Recht! Der Eindruck entsteht, man wolle die Eingewanderten dieser Länder mit den heutigen „Einwanderer“ aus Länder wie : Irak, Afghanistan, Eritrea, Algerien, Libyen usw gleichstellen! Mit Absicht wird die Kultur der Neuankömmlinge nicht erwähnt da es sich um Moslems handelt und Tatsache ist, dass der Islam nur eine negative Bereicherung unseres Land bedeutet. Es ist unrichtig die früheren (gleiche Kultur) Einwanderungen mit denen von heute (andere Kultur) zu vergleichen – völlig fehl am Platz!