Wieder mal gut gegangen

Erfüllte sich seinen Traum: Franz Krienbuehl (hier 1968) beschloss als Erwachsener, Schweizer Meister im Eisschnelllauf zu werden. (Foto: Keystone)
An einem Familienanlass bin ich Menschen begegnet, die ich zehn, zwanzig Jahre nicht mehr gesehen habe – seit sie als kleine Buben und Mädchen unter den Tischen herumgekrochen sind.
Ein junger Mann im Anzug hat eben sein BWLStudium abgeschlossen und eine Kaderstelle bei einem internationalen Konzern angetreten. Er ist noch keine dreissig und führt ein Team mit strategischen Aufgaben, das ist ein 50- bis 60-Stunden-Job. «Keine Ahnung, wie viel ich arbeite», sagte er, «manchmal wirds spät, wenn ich nach Hause komme. Ich arbeite gern. Ich habe mich noch keine Minute gelangweilt.»
In seinem Alter, meint er, würden die Weichen gestellt. «Die entscheidenden Jahre für die Karriere. Ich habe kein Vitamin B, alles hängt von mir ab.» Ich stellte mir vor, wie er an Sitzungen Konzepte präsentiert, wie er Kennzahlen fordert, sich unbeliebt macht. «Hast du Gegner?», fragte ich. «Neider gibts immer, man muss mit ihnen reden.»
Er wohnt allein, kocht, wäscht, putzt, «damit ich das lerne». Übers Wochenende schrubbt er die Wohnung, füllt den Kühlschrank, manchmal, wenn er mag, geht er auf die Bar-Tour. Für eine Freundin fehle ihm die Zeit, sagte er, dabei sieht er blendend aus in seinem dunklen Anzug. «Was soll ich Händchen halten, wenn ich lieber im Büro wäre? Man muss Prioritäten setzen.»
«Vielleicht brauchst du eine Frau, die auch Karriere machen will.» «Vielleicht», sagt er, «hat alles seine Zeit.»
Später am Abend meint seine Cousine lachend: «Ach, er blufft nur. Ich treffe ihn immer im Ausgang.» Was wissen wir schon über andere Menschen, die wir alle zehn, zwanzig Jahre sehen?, denke ich.
Eine andere junge Frau, an deren Gesicht ich mich erinnerte, hat ihre Matur gemacht, studiert und dann plötzlich das Boxen entdeckt. Sie boxt fünf Tage die Woche, wird immer besser, gewinnt schon Kämpfe. Vielleicht boxt sie sich irgendetwas von der Seele, denke ich, Wunden ihrer Jugend, vielleicht die einseitige, kopflastige Schulbildung, «sit mens sana in corpore sano», hiess es einmal.
Was weiss ich? Vielleicht sind die Erklärungen, die wir uns von anderen Menschen zurechtlegen, die Thesen und Vermutungen, nur Bilder, an denen wir uns festhalten können. Vielleicht wäre die junge Frau Boxer geworden, wenn sie als Knabe auf die Welt gekommen wäre. Vielleicht erfüllt sie sich einfach einen Traum.
Es gab mal einen Eisschnellläufer, den Zuger Franz Krienbühl, der sich als Erwachsener in den Kopf gesetzt hatte, Schweizer Meister zu werden, und es tatsächlich als knapp Vierzigjähriger schaffte. Seinen letzten Titel holte er mit 55 Jahren, im Jahr 1984. Krienbühl war gelernter Architekt, und als Aussenseiter hatte er einen anderen Zugang zu seinem Sport. Er entwickelte als absolute Neuheit einen hautengen, aerodynamischen Anzug, der ihn 1976 auf Platz acht der Olympischen Spiele brachte, seither tragen alle Eisschnellläufer solche schlüpfrigen Anzüge.
Der Mensch ist wie ein Tanker. Schlingert mal auf die eine Seite, mal auf die andere, dachte ich auf dem Weg nach Hause. Wir sitzen auf der Kommandobrücke und denken, wieder mal gut gegangen.
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