Liebevolle Küsse

Beim Besuch in der Bibliothek werden wieder Jugenderinnerungen wach: «Bravo Girl», Fotoroman und die erste Liebe.

Da kommen Jugenderinnerungen hoch: Fotoroman im «Bravo Girl». (Bild: Beni Frenkel)

Ich rate jedem Intellektuellen, sich auf die Frage vorzubereiten, was Bücher für ihn bedeuten. Man ärgert sich sonst nur, wenn ein VJ von TeleZüri oder Gott himself fragt: «Was bedütet diär Büecher?», und man als Antwort nichts Gescheites auf Lager hat. Folgende drei Sätze sollte man auswendig lernen: «Bücher sind für mich die Seele des Menschen», «Bücher sind wie das Wasser in der Wüste», «Das Buch ist der Stamm der Menschheit

Wer etwas auf sich hält, darf auch lateinische Wörter verwenden: «Bücher sind für mich die anima der Menschen», «Bücher sind wie das aqua in der Wüste», «Das Buch ist der iactabantur der Menschheit.» Oder Albanisch: «Bücher sind für mich die shpirt des Menschen», «Bücher sind wie das ujë in der Wüste», «Das Buch ist der tendosje der Menschheit.»

Einmal im Jahr gehe ich in eine Bibliothek. Wie einen nach Wasser Dürstenden in der Wüste zieht es mich zu diesen geistigen Kostbarkeiten. Ein anderer Grund ist meine schwache Blase. Ich muss einmal pro Stunde auf die Toilette gehen. Wahrscheinlich bin ich krank. Wenn ich einen Ausflug plane, checke ich vorher das Angebot an öffentlichen Toiletten ab. Ein guter Tipp sind die Pestalozzi-Bibliotheken der Stadt Zürich. 14 gibt es total, in fast jedem Quartier eine.

Am Montag musste ich die Toilette der Pestalozzi-Bibliothek in der Altstadt aufsuchen. «Und, wie wars?», fragen mich meine vielen Freunde in den sozialen Medien. Da ich von Facebook unbedingt beschrieben werden will mit: «Antwortet i. d. R. innerhalb von Minuten», gebe ich gleich zur Antwort: «Danke, es war schön. Smile.»

Auf dem Weg zur Toilette bin ich vielen Büchern begegnet. Sie alle aufzuzählen, ginge zu lang. Ich möchte mich auf die Abteilung «Teens Fantasy» konzentrieren. Ein Buch, das die Fantasien Jugendlicher ansprechen soll, heisst «Afterworld». Der Wälzer hat 702 Seiten. 702 Seiten! Lesen unsere Jugendlichen tatsächlich solche Schinken? Meine jugendlichen Fantasien zählten nur sechs Buchstaben: Noélle. Von der Parallelklasse.

Ich hatte in meiner Jugend auch Fantasien, aber 702 Seiten habe ich nie gelesen. Überhaupt habe ich keine Bücher gelesen. Höchstens die «Bravo Girl» von meiner Schwester.

Ein Exemplar von «Bravo Girl» habe ich dann auch noch entdeckt. Jugenderinnerungen kamen hoch. Ich blätterte zum Fotoroman. In dieser Nummer geht es um die traurige Jenny: «Das hübsche Girl hat noch wenig Erfahrungen mit Jungs», stand da, «Jenny möchte aber auch endlich mal einen Freund haben.» Dreissig Fotos später gehen ihre Wünsche in Erfüllung: «Davids und Jennys Lippen suchen sich und finden sich zu einem liebevollen Kuss.»

Meinen ersten liebevollen Kuss bekam ich übrigens von der Grossmutter. Einen stürmischen Kuss hingegen hätte ich gerne von Noélle erhalten. Aber das ging nicht. Ich glaube, Noélle wusste nicht einmal, dass es mich gibt. In den 5-Minuten-Pausen hing sie immer mit so einem Kerl zusammen. Sie und dieser Dreckskerl küssten und knutschten hemmungslos auf der Treppe. Wegen meiner schwachen Blase musste ich immer um sie herumlaufen, um auf die Toilette zu gehen.

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